TEIL IX - EL CENTRO VIDA DIGNA - ZENTRUM LEBEN IN WÜRDE
Suzan
Ich sitze in einem Großraumbüro, vier Arbeitsplätze voll mit Unterlagen und Ordnern, einige Regale fungieren als Raumtrenner. Drei Tische sind zusammengeschoben und bieten Platz für Teambesprechungen. Es sieht ein wenig aus wie “zuhause” in der Bürgerstiftung. Hinter den Büroräumlichkeiten befindet sich ein zweistöckiges Gebäude – unten eine Küche, ein Speisesaal und drei Schlafzimmer mit jeweils sechs Stockbetten und einem Bad. Im oberen Stockwerk gibt es einen Raum mit Spielsachen und einen anderen für handwerkliche Tätigkeiten sowie ein Studierzimmer. Es grenzt ein Rohbau an, der darauf wartet, fertig gebaut zu werden. Vor dem Gebäude ist ein Spielplatz und daneben ein Garten. Ich sitze mit vier Frauen an den oben beschriebenen Besprechungstischen. An die Wand projiziert ein Beamer eine Powerpoint-Präsentation. Und ich weine…
Ich bin in Tarija, einer (nach offiziellen Angaben) 200.000-Einwohnerstadt auf ca. 2.000 Höhenmetern im Süden Boliviens. Die Grenze zu Argentinien ist nicht allzu fern. Tarija ist kein weltbekannter Ort und liegt deshalb auch nicht auf der Reiseroute der meisten Traveller. Gleichwohl verfügt Tarija über einen sehenswerten Altstadtkern und das Umland hat in Sachen Flora, Fauna und Landschaft viel zu bieten. U.A. wird im Umland auch Wein angebaut. Die Familie des Vermieters meiner Unterkunft gehört zu eben jenen Winzern und fährt mich am Tag nach meiner Ankunft durch die hochgelegenen Weinberge. Er ist zum Scherzen aufgelegt und erzählt mir, dass Tarija wohl der einzige Ort der Erde ist, in dem in den Nachrichten ein fester Platz an Witze vergeben ist. Ich habe das nicht nachgeprüft, aber sein Enthusiasmus für tiefgehende und flache Scherze lassen mich ihm nur allzu gerne Glauben schenken.
Der Grund für meinen Besuch in Tarija ist allerdings nicht zum Lachen. Wohl eher das Gegenteil. Über einen privaten Kontakt organisieren wir nämlich (relativ kurzfristig) meinen Besuch im “Centro Vida Digna” (Zentrum Leben in Würde) in Tarija – eine Einrichtung, in welcher jungen Missbrauchsopfern ihre Würde zurückgegeben wird. Eine gute Freundin und ihre Mama unterstützen mit ihrer Stiftung das Zentrum. Milena und ihre Mutter Karina, beide kenne ich als echte Powerfrauen, haben 2013 zusammen die Stiftung “Johana - our own lives, bodies and rooms” gegründet. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und seit 2013 unterstützen sie das Zentrum. Karina hat als angehende Ärztin in den 80er Jahren in Bolivien ein Praktikum gemacht – Daher die Verbindung zum Land und die Solidarität mit den Frauen in Bolivien. Gemeinsam mit der lokalen Frauenrechtsbewegung “Mujeres en Acción” (Dt.: Frauen in Aktion), die schon seit den 90er Jahren aktiv sind, gründeten sie 2013 das Zentrum Leben in Würde, in dessen Räumlichkeiten ich sitze.
Magali, die Geschäftsführerin des Zentrums, stellt mir ihr Team vor: Eine Sozialarbeiterin, eine Psychologin und eine Anwältin. Gemeinsam erklären sie mir ihre Arbeit. Ihnen ist dabei wichtig, vorweg zu schicken, dass die Trägerorganisation “Frauen in Aktion” sehr viel in Sachen Sensibilisierung und Prävention unternimmt. Im Zentrum ”Leben in Würde” geht es aber konkret um eine integrierte Begleitung jugendlicher Opfer sexueller Gewalt mit Schwangerschaftsfolge. Es geht also darum, jungen Frauen, die in der Folge von Vergewaltigungen schwanger wurden, auf ihrem weiteren Lebensweg zu helfen - v.a. darum, ihnen ihre Würde zurückzugeben. Und leider haben die Damen viel Arbeit: Ca. 1.200 Gewalt-Schwangerschaften gibt es in der Provinz Tarija pro Jahr – wobei diese Daten lediglich jene Fälle abbilden, welche in den Krankenhäusern erhoben werden. Die Dunkelziffer dürfte groß sein. Täter kommen in der Regel aus dem engsten Umfeld der Mädchen – Vater, Onkel, Freunde der Familie usw.. Wenn die Behörden einschreiten, dann insoweit als dass sie den Fall der Justiz übergeben und die Mädchen ins Zentrum bringen. Und das obwohl der Staat umgerechnet gerade mal einen Euro pro Mädchen und Tag an das Zentrum bezahlt. Ein Insasse eines bolivianischen Gefängnisses kostest den Staat 2 € für Essen pro Tag. Darüber hinaus bildet die Einrichtung ihre Finanzierung über Spenden ab.
Nachdem die Mädchen im Zentrum ankommen, ginge es häufig zunächst darum, sie aufzufangen und für die Thematik zu sensibilisieren, erklären mir die Frauen. Das kann bedeuten, Schuldgefühle auszuräumen, oder ein Verständnis darüber herzustellen, dass ihnen ein Unrecht, etwas abseits der Normalität geschehen ist. In der Folge werden die Mädchen dann Schritt für Schritt in die Lage versetzt, eine freie und möglichst verantwortungsbewusste Entscheidung mit Blick auf das ungeborene Leben zu treffen: Schwangerschaftsabbruch, Adoptionsfreigabe, oder Mutterschaft. Egal welche Entscheidung getroffen wird, die Mädchen finden Unterstützung im Zentrum. Neben einer persönlichen therapeutischen Begleitung geben die Mädchen sich gegenseitig Halt, bspw. im Rahmen von Gruppentherapien. Generell wird die Solidarität zwischen ihnen gefördert. Man lebe zusammen, wie in einer großen Familie.
Daneben werden die Mädchen empowered, um in der Folge möglichst unabhängig durch ihr Leben schreiten zu können. Das bedeutet konkret v.a., dass großer Wert auf Bildung gelegt wird. Ein regelmäßiger Schulbesuch ist Pflicht. Bei Müttern übernehmen während der Schule andere Klientinnen die Aufsicht über die Kinder. Es gibt eine Hausaufgabenbetreuung, wobei sich die Mädchen ebenfalls gegenseitig unterstützen und sollte das Geld für eine Schuluniform fehlen, wird diese durch das Zentrum bezahlt. Gleichzeitig erhalten die Heranwachsenden die Möglichkeit, sich im Rahmen der zentrumseigenen “Tienda” (ein kleiner Kiosk für die Nachbarschaft) etwas dazuzuverdienen und dabei Grundlagen der Wirtschaft praktisch zu erlernen. Im Kiosk werden Backwaren und Handwerksartikel verkauft, welche die Klientinnen des Zentrums selbst herstellen. Eine weitere große Herausforderung für das Team der Einrichtung ist es zu prüfen, inwieweit eine Rückführung in die jeweiligen Familien möglich und sinnvoll ist.
Zudem werden die Mädchen im Kontext der Strafverfolgung und anderen juristischen Angelegenheiten unterstützt. So ist es immens wichtig, dass ihnen vor Gericht Glauben geschenkt wird und es schlussendlich auch zu einer Verurteilung der Täter kommt. Einerseits unterstützt das den Verarbeitungsprozess der Mädchen, andererseits darf man berechtigterweise hoffen, dass Verurteilungen abschrecken, sensibilisieren usw.. Ohne eine fachliche Begleitung, blieben Verurteilungen aber oft aus und auch an Vertrauen für die Geschichten der Opfer fehle es nur allzu oft, erklärt mir die Anwältin. Ihr Hauptanliegen ist die Restauration der Rechte der jungen Frauen. Daneben gibt es weitere Angelegenheiten zu klären, die ich mir im Vorhinein nicht vorstellen konnte. Bspw. muss für Kinder, sofern sie denn geboren werden bzw. bei der Mutter aufwachsen, ein zweiter Nachname fingiert – also erfunden – werden, da in Bolivien Menschen immer zwei Nachnamen tragen: den der Mutter und den des Vaters. Fehlt ein zweiter Nachname, muss für das weitere Leben eines Kindes mit Diskriminierung gerechnet werden.
Die Zeit ist zwischenzeitlich vorangeschritten. Den ganzen Vormittag habe ich mit dem Team des Zentrums gesprochen. Es ist Zeit zum Mittagessen und ich werde eingeladen, mit den Klientinnen des Zentrums zu speisen. Es gibt eine Suppe und danach Reis mit Hähnchen. Während des Essens herrscht zunächst andächtige Ruhe. Doch irgendwann löst sich die Anspannung und die Mädchen beginnen mir Fragen zu stellen – über Deutschland und meine Reise. Zwei der Mädchen haben ihre jungen Kinder auf dem Schoß und füttern sie fürsorglich, wobei hier und da mal etwas für den Hund und die Katze herabfällt, welche friedlich den Essenstisch umstreifen.. Ich habe Nachtisch mitgebracht: Kekse für alle.
Als ich zurück an den Besprechungstisch komme, kann ich nicht an mich halten und beginne zu weinen. Ich saß gerade mit 15 Mädchen am Mittagstisch, die wirklich noch überaus kindlich auf mich wirken. Das zusammenzubringen mit dem, was ich am Vormittag gehört habe, schmerzt mich außerordentlich. Ich frage, wie die Kolleginnen mit dieser Belastung umgehen und Magali erklärt mir: “Das schmerzt uns auch. Jeden Tag. Und gleichzeitig ist es gerade im Sinne der Mädchen, dass wir sie nicht nur als Opfer sehen und behandeln. Nur dann können sie auch aus der Opferrolle herausfinden.”
Was Magali sagt, hilft mir umgehend. Trotzdem gehe ich später aus dem Gespräch und spüre Wut auf die bolivianische Gesellschaft und nicht zuletzt den bolivianischen Staat. Des Weiteren nehme ich mir vor, das Zentrum aus Deutschland zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb, weil mir vor dem Abschied von vielen Beispielen berichtet wird, in denen junge Frauen, Abgängerinnen aus dem Zentrum, sich ein eigenes, würdevolles Leben aufbauen konnten.