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Blog Phillip 1

Teil VI - “Grubbern”

Suzan

Nach der Ruhe in Uruguay setzt mir Buenos Aires ziemlich zu. Die Stadt ist laut und quirlig. Gestern hatte ich einen schönen Abend mit Julián verbracht und viel Spanisch gesprochen. Das war interessant, aber nicht zuletzt unter dem Einfluss von Buenos Aires auch anstrengend. Heute steht ein weiteres interessantes Gespräch auf dem Plan. Ich treffe Renate, eine Freundin und Mitstreiterin aus der Mutterzentrumsbewegung meiner hoch-geschätzten Kollegin Andrea. Renate ist Deutsche, schon lange Zeit in Argentinien und hatte direkt zugesagt, als ich auf Sie zukam und sie um ein Gespräch bat. Ich freue mich darauf, mit ihr Deutsch sprechen zu können. 

Auf dem Weg zum Café, in welchem wir uns treffen, fallen mir immer wieder Männer mit Einkaufswagen voller Altpapier auf, die Mülltonnen durchsuchen. Ich verstehe das noch nicht, doch ehe ich heute zu Bett gehe, werde ich das Gesehene einordnen können. Man soll ja auch nicht so doof ins Bett gehen, wie man aufgestanden ist…

Angekommen im Café, merke ich, dass ich früh dran bin und setze mich schon mal. Es ist Nachmittag und gerade spielt Deutschland gegen Costa Rica sein letztes Gruppenspiel der WM. Im Fernsehen des Cafés läuft allerdings das Parallelspiel von Spanien. Ich denke darüber nach, ob mich das nun stört und just in diesem Moment kommt eine wunderbar gealterte Frau mit breitem Grinsen auf mich zu. Es ist Renate. Nach kurzer Verwirrung, ob wir uns nun auf die Wangen küssen, wie es die Argentinier zu pflegen tun, setzt sie sich zu mir an den Tisch. Wir plaudern, ich erzähle ihr von meiner Reise und warum ich auf sie zukam. Dann wechseln wir den Tisch, denn die Straßen Buenos Aires setzen uns auch hier zu…


Renate ist seit vielen Jahren in Argentinien und gab 2004 ihren Job in einer Bank in München auf, um ihren Mann Gottfried zu begleiten, der eine Stelle als Südamerika-Hörfunkkorrespondent der ARD antrat. Und an dieser Stelle sei mir ein Lektürehinweis für tiefergehende Interessierte gestattet: Gottfried hat ein wunderbares Buch über seine Zeit in Südamerika geschrieben (1). Ein Buch, das mir o.g. Andrea zum Abschiedsgeschenk machte und das ich nur zu gerne gelesen habe auf meiner Reise. 

Jedenfalls ist Renate entsprechend viel rumgekommen auf dem Kontinent. Mittlerweile begleitet sie ausgewählte Reisegruppen durch Buenos Aires und Argentinien. Aber der Grund, warum ich sie kontaktierte, war ein anderer: Sie hat sich für ein Mütterzentrum in einem Armenviertel von Buenos Aires eingesetzt und damit nach meiner bescheidenen Meinung viel erreicht. Ich interessiere mich brennend dafür, wie das vonstatten ging und nutze die Chance, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. 

Renate erzählt mir von einem Konvent zu Social Change in Brasilien, auf welchem sie und ihr Mann einen Herren trafen, der eine Kooperative zum Altpapier-Recycling in Villa Independencia, eben jenem Armenviertel von Buenos Aires, aufbaute. (AHA, denke ich. Ob das nicht etwas mit den altpapiersuchenden Männern zu tun hat?) Nachdem was Renate und ihr Mann über das Viertel gehört hatten, wollten sie sich selbst ein Bild von der Situation verschaffen. Und hier in aller Kürze, was die beiden vorfinden: „Mittendurch fließt der „Reconquista“ — eine stinkende Kloake, vollgestaut mit Müllsäcken, Autowracks und Chemikalien einer nahen Fabrik. (…). In Sichtweite der Villa türmt sich die Müllhalde der Hauptstadt (…). In der Villa Independencia leben ungefähr dreitausend Menschen. Die Meisten betteln oder verdienen sich als Müllsammler.“ (Stein 2014: 28). Wer möchte, achte bitte an dieser Stelle besonders auf die absurde und paradoxe Verwendung der Begriffe „Independencia“ und „Reconquista“ als Namen in diesem Kontext.

Aus der Mütterzentrumsbewegung  stammend, hatte Renate natürlich einen Blick für die jungen Frauen — oft nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre — die schon Mütter sind und entschied, ein Mütterzentrum im Viertel aufzubauen. Und es sollte gelingen — mit Hilfe von Spendengeldern aus Deutschland. Renate erzählt mir, dass der Schlüssel um zunächst den jungen Müttern und damit den Familien und vor allem auch den Kindern zu helfen, ihrer Meinung nach in Bildung liegt. Und so organisierte sie Alphabetisierungskurse und half jungen Frauen dabei ihren Abschluss nachzuholen. Heute bietet das Zentrum u.a. Tanz- und Theaterkurse, Hausaufgabenhilfe sowie Sozialberatung und eine kleine Werkstatt. Doch richtig stolz wirkt Renate erst, als sie erzählt, dass die Mütter es schlussendlich gemeinsam geschafft haben die damalige Ministerpräsidentin der Provinz vor Ort zu bekommen und dass mit ihrer Mithilfe zwischenzeitlich eine Kanalisation errichtet wurde. 

“Und da wusste ich, dass ich mit meinem Engagement unbedingt weitermachen muss — auch wenn es manchmal schwierig, oder gar aussichtslos ist.”

— Renate

Ich möchte von Renate wissen, wie es kommt, dass Kinder Kinder kriegen, ob Verhütung nicht ein Ansatzpunkt wäre. Und sie erklärt mir, dass es natürlich auch um Verhütung gehe und das schwierig sei aufgrund des Einflusses der Kirche. Aber sie stellt einen anderen Punkt in den Vordergrund: Die jungen Frauen wollen Mütter werden, denn erst dann wird ihnen dort wo sie sind gesellschaftliche Anerkennung zuteil. Ersteres hatte ich ja auf dem Zettel, zweites aber nicht. Und wieder einmal bin ich überrascht. Renate führt weiter aus, dass den jungen Frauen häufig erst als Mütter mit Respekt entgegnet wird und deshalb Mädchen aus eigenem Antrieb früh Kinder bekommen möchten. Stabile Familienverhältnisse entstehen mit den Vätern jedoch selten, führt sie aus. 

Seit mehr als einem Jahrzehnt widmet sich Renate dem Mütterzentrum in der Villa Independencia. Vor diesem Hintergrund möchte ich wissen, was sie motiviert sich immer wieder auf´s Neue zu engagieren. Sie entgegnet mir mit einer Frage: „Philipp, weisst du was Grubbern ist?“ Das wusste ich bis dato ebenfalls nicht, aber auch das sollte sich ändern. „Ich war mal im Winter auf Feldern bei München spazieren und haderte gerade mit mir und meinem Engagement. Da traf ich einen Bauern auf seiner Landmaschine, die mich mit ihrem Krach beim Denken unheimlich störte. Etwas energisch fragte ich den Bauern, was er hier im Winter mit dieser Maschine auf dem Feld mache. Er sagte mir gerade im Winter, auch wenn es Frost gibt und die Erde hart ist, ist es wichtig die Erde zu grubbern. Und da wusste ich, dass ich mit meinem Engagement unbedingt weitermachen muss — auch wenn es manchmal schwierig, oder gar aussichtslos ist.“ 

Ein stärkeres Ende kann ich mir für diesen Text nicht ausdenken… Nur eines noch, für diejenigen, die wie ich nicht wussten, was Grubbern ist: Pflügen. Auf dass wir alle nicht so doof ins Bett gehen, wie wir aufgestanden sind. 





  1. Gottfried Stein 2014: Südamerika im Umbruch. Geschichten aus einem faszinierenden Kontinent. BoD Books on Demand, Norderstedt.