Teil V - Die Seele Argentiniens
Suzan
Ich komme mit der Fähre an und werde im Hafen mit einer riesigen Fahne begrüßt: Celeste, Weiß, Celeste. In der Mitte eine goldene Sonne. Meine Zeit in Uruguay geht damit zu Ende und es zieht mich über den Rio de la Plata in die Hauptstadt Argentiniens. In Buenos Aires werde ich einige Tage alleine verbringen, bis ich einen argentinischen Freund am Flughafen abhole, um mit ihm in Richtung Rosario weiterzuziehen. Ich habe mir im Vorhinein schon ein Hostel gebucht, welches auch mein erstes Ziel sein soll.
Doch zunächst möchte ich Geld abheben, was in Argentinien aufgrund unterschiedlicher Wechselkurse zur Herausforderung wird. Neben dem offiziellen Wechselkurs, gibt es einen inoffiziellen Wechselkurs, welcher einem in etwa doppelt so viele Pesos für einen Euro verspricht als der Offizielle. 100 Euro sind zu diesem Zeitpunkt nach offiziellem Wechselkurs 18, nach inoffiziellen 36 Tausend Pesos. Der größte Schein ist 1.000 Pesos. Wer über das Lesen dieses Textes hinaus die Motivation findet, die Inflation in Argentinien zu beobachten, kann ja mal nachschauen, was der Peso „heute“ in Euro wert ist.
Obenstehende Einsicht erlange ich aber erst im weiteren Verlauf meiner Reise, sodass ich mit frischen Banknoten vom Automaten (nach offiziellem Wechselkurs) ausgestattet im Hostel ankomme und beim Bezahlen feststellen muss, dass Argentinien gar nicht so viel günstiger ist als Deutschland. Sei´s drum, denke ich mir und lege erst mal meine Sachen ab und gönne mir die lang ersehnte Dusche.
Frisch geduscht gehe ich dann in den Gemeinschaftsraum des Hostels um mich etwas von den Strapazen der Reise zu erholen. Dort begrüßt mich ein dunkelhaariger, untersetzter Mann mit Bart. Ich schätze ihn auf Anfang 40. Und wie so oft auf meiner Reise komme ich mit dem Fremden ins Gespräch. Und wie so oft ist eine seiner ersten Fragen, wo ich herkomme. Die Menschen sehen mir an, dass ich nicht in Südamerika geboren bin. Gleichzeitig verwundert sie, dass ich „Argentino“, also Argentinisches Spanisch, spreche. Julián fragt mich nach dem Grund dafür. Ich erkläre ihm, dass ich in Spanien mit Menschen aus Uruguay und Argentinien zusammengewohnt habe und mir dort meinen „Dialekt“ angewöhnt habe. Außerdem erkläre ich ihm, dass mir Argentino sehr gefällt, da (Achtung: Lautschrift) „ll“ und „y“ nicht wie im Spanischen als „j“, sondern als „sch“ ausgesprochen werden. Und das kenne ich gut aus meinem Schwarzwald-Dialekt, dem Alemannisch.
Beim „Selva Negra“ (Schwarzwald) wird Julián hellhörig. Und ich finde auch schnell heraus warum. Er erklärt mir, dass er deutsche Vorfahren jüdischer Herkunft hat, die während des zweiten Weltkriegs emigriert sind. Seine Uroma, so erzählt er weiter, stammt seines Wissens nach aus dem Selva Negra. Er bittet mich um einen Moment Geduld, verlässt den Raum und ich höre ihn in seinem Rucksack herumkramen. Er kehrt wieder mit einer Papiermappe, aus welcher mit Eselsohren versehene Blätter herausgucken. Ich bin sehr gespannt, was nun kommt.
Julián hat Ahnenforschung betrieben und ist dabei über Facebook mit einer Großcousine aus Stuttgart in Kontakt getreten. Diese hat ihm ein Buch zur Familiengeschichte inkl. Stammbaum zukommen lassen. Seine Augen schimmern freudig beim Erzählen, wobei er es sich nicht nehmen lässt hin und wieder an seinem Mate zu ziehen. Es folgt eine nicht ganz unkomplizierte Erläuterung zu seiner Herkunft. Er wusste bereits zuvor, dass er mit dem ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger verwandt ist. Sein Vater und Opa waren bzw. sind auch Diplomaten, erzählt er mir und zeigt dabei auf den etwas vergilbten Stammbaum. Dann fahren seine Finger zu seiner Urgroßmutter, wo in kleinen Buchstaben Glottertal als Geburtsort eingetragen ist. Sappalot! Seine Uroma kommt also aus dem Schwarzwald… Und er hat sogar ein Schwarz-Weiß-Bild in seiner Mappe, auf welchem besagte Frau vor dem Hintergrund eines der mir so bekannten Täler zu sehen ist.
Nachdem wir die Ahnenforschung hinter uns lassen, tauschen wir uns über unsere Berufsleben aus. Julián ist studierter Rechtswissenschaftler und hat sich dann im Bereich des Systemischen Coachings weitergebildet. Zwischenzeitlich bildet er in diesem Bereich selbst aus. Seine Leidenschaft liegt in diesem Kontext bei „Konstellationen“, sagt er mir. Hierbei werden Systeme über Gegenstände oder Personen verbildlicht, erklärt er mir. Da ich noch nicht ganz verstehe, bitte ich ihn mir ein Beispiel zu geben. Und so fängt er an, über sein aktuelles Projekt zu sprechen.
Derzeit tourt Julián durch mehrere Argentinische Städte um Konstellationen durchzuführen. Seine Leitfrage ist dabei, wie es derzeit gesellschaftlich um Argentinien steht. Und so führt er immer wieder Gruppen an Menschen zusammen, die dann — ähnlich wie in einem Rollenspiel — unterschiedliche Perspektiven auf das Land einnehmen. So verkörpert eine Person bspw. die Natur, Menschen die im Ausland leben, die indigene Bevölkerung Argentiniens usw.. Die Teilnehmenden denken sich in die jeweilige Perspektive herein und dann werden unterschiedliche Themen besprochen:
Bspw. Die wirtschaftliche Lage und natürlich die Inflation. Ich frage Julián wie er Teilnehmende für sein Projekt gewinnt und bin überrascht als er mir antwortet, dass er bis hierhin immer mehr Interessenten hatte, als Plätze für die Workshops. Woran das seiner Meinung nach liegt, möchte ich natürlich wissen. Seine Antwort überrascht mich: „Viele Argentinier:innen sind so unzufrieden mit der aktuellen Situation, dass sie daraus Motivation schöpfen, darüber zu sprechen.“ Das sei dann so etwas wie ein Ventil und helfe den Menschen gleichzeitig die aktuelle Situation besser zu verstehen und über Lösungen nachzudenken.
Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und frage ihn, welche Erkenntnisse er bis hierhin mit dem Projekt hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage Argentiniens gewonnen hat. Und wieder überrascht mich seine Antwort. „Weißt du Philipp, es ist nicht so, dass unsere Wirtschaftwissenschaftler:innen dümmer sind als eure. Vielmehr ist die Seele Argentiniens krank. Argentinien leidet an einem kollektiven Trauma“. Weiter erklärt er, dass es einen stark ausgeprägten Individualismus im Land gebe. Alle wollten Messi oder Maradona sein. Es mangele an geteilten Werten, was eine Politik mit Weitsicht erschwere. Die Menschen trauten sich hierzulande gegenseitig nicht und es fehle auch an Vertrauen in die Institutionen. Und das schmerze tatsächlich auch jeden Einzelnen. Abschließend sagt Julián mir: „Die Wirtschaft Argentiniens ist ein Spiegel, in welchem wir uns selbst ins Gesicht schauen können“.
Mir kommt das „Sozialkapital“ in den Sinn — ein politikwissenschaftlichen Ansatz, der auch in der Arbeit der Bürgerstiftung Stuttgart eine wesentliche Rolle spielt. Zutrauen in die Menschen, die Gesellschaft und ihre Institutionen zu mehren, das scheint mir obergeordnetes Ziel unserer Stiftung zu sein. Und das Gespräch mit Julián zeigt mir, dass das ein wichtiges Ziel bleibt.