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Blog Phillip 1

Teil IV - El Refugio

Suzan

Ich bin in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays. Hier habe ich Freunde aus meiner Zeit in Spanien, die ich besuche und die mich gastfreundlich aufnehmen. Guillermo hat dankenswerterweise bei seiner Mutter eine Matratze abgeholt, auf der ich nächtigen darf. Seine Wohnung liegt an den Ramblas von Montevideo, die mit ihren kreischenden Loros tatsächlich an Barcelona erinnern, nur dass sie entlang des Atlantiks führen und nicht auf das Mittelmeer zu.  


Uruguay wird von Europäern oft als südamerikanische Schweiz bezeichnet, was ganz sicher nicht an ähnlich bergigen Landschaften liegt. Das Land ist geprägt von grasigen Weiten, auf denen man nicht selten Rinder grasen sieht. Hierzulande gibt es mehr Vieh als Einwohner, was wohl schon eher eine Parallele zur Schweiz sein dürfte. Vor allem aber ist Uruguay für südamerikanische Verhältnisse ein reiches Land. Das Lohnniveau ist verhältnismäßig hoch, sodass Guillermo zum Urlaub machen gerne nach Argentinien fährt. Die Gründe könnten ähnlich sein, wie die, die Schweizer:innen in den Schwarzwald bringen, denke ich mir. Und tatsächlich ist das Preisniveau in Uruguay so hoch, dass sich auch für mich mit Euros auf dem Bankkonto das Essengehen als Alltagsluxus gestaltet. 

Ich erzähle Guillermo von meinem Blog und er begreift, dass es im Großen und Ganzen um soziale Projekte geht. Er empfiehlt mir einen Bekannten, der “etwas soziales” arbeitet. Bis heute kenne ich nur seinen Spitznamen und nicht seinen vollen Namen – ein Phänomen, was mir schon öfter vorgekommen ist, denn Freunde von Freunden kenne ich ganz häufig nur unter Spitznamen. “Cachito” wird der Freund genannt, den ich kontaktieren soll. Ich stelle mir also einen kleinen Menschen vor, denn Cachito meint so viel, wie “halbe Portion”. 

Ohne große Umschweife nehme ich Cachito eine Sprachnachricht auf und erzähle ihm darin von mir, meiner Reise und von meinem Blog. Nur wenige Minuten später erhalte ich Antwort. Mit freudiger Stimme erzählt er mir, dass er für das Sozialministerium in einem “Refugio” arbeitet und dass er gerne mit seiner Chefin klärt, ob ich vorbeikommen kann, um die Einrichtung kennenzulernen. 

Bereits am nächsten Tag haben wir uns verabredet. Ich fahre mit dem Fahrrad in das etwas außerhalb gelegene Viertel und merke, dass entsprechende Infrastruktur auch in Uruguays Hauptstadt Entwicklungsfeld ist. Angekommen, schüttle ich zunächst die Ängste der Straßen ab und erblicke dann eine alte Villa, die ihre besten Tage sicherlich hinter sich hat und deren Tor am oberen Ende mit Stacheldraht gedeckt wird. Hier bin ich mit Cachito verabredet, um seine Arbeit kennenzulernen. Und ich warte nur wenige Minuten, da fasst mir auch schon jemand von hinten auf die Schulter und begrüßt mich mit breitem Grinsen: Ein junger Mann, Mitte 20, mit dunklen Haaren, Kurzhaarfrisur, kurzer Hose und Rammstein-T-Shirt, welches er, so wird er mir später erzählen, extra angezogen hat, weil die Band ja aus Deutschland stammt. 

Cachito schließt das Tor auf und wir treten ein. Er rät mir, mein Fahrrad mit reinzunehmen und ohne Umschweife beginnt er mir zu erzählen. Es ist 17.30 Uhr und Cachito erklärt mir, dass die “clientes” erst um 18.00 Uhr hereinkommen dürfen, sodass wir noch etwas Zeit haben, um zu quatschen und das Gebäude zu besichtigen. Er führt mich in ein kleines Büro, in dem wir zunächst Platz nehmen. Er eröffnet mir, dass es sich bei dem "Refugio" um eine Unterkunft für wohnungslose Männer handelt. 

Die Männer können hier die Abende und Nächte verbringen, bekommen etwas zum Abendessen und müssen die Einrichtung am Morgen dann wieder verlassen. Die alte Villa bietet Nacht für Nacht 40 Männern einen sicheren und wettergeschützten Schlafplatz. Von diesen 40 Männern sind 35 dauerhaft registriert, sodass Cachito die meisten der Männer bereits gut kennt. Seit zwei Jahren macht er diesen Job – seitdem er mit dem Studium fertig ist, erzählt er mir. Und er führt mich durch das Haus. Der Eingang führt über eine kleine Steintreppe in ein Wohnzimmer, in welchem ein etwas abgerocktes Sofa gegenüber eines kleinen Fernsehers steht. Den Gang entlang gibt es rechter Hand vier Schlafzimmer, in denen jeweils fünf Stockbetten stehen. Am Ende des Gangs führt eine Tür in einen kleinen Hinterhof, in welchem Wäscheleinen, gesäumt von rissigen Bettlaken, hängen, ein kleiner Schuppen steht und zu meiner Überraschung ein kleines Gemüsebeet verschiedenen Pflanzen Lebensraum bietet. Ich frage, was die Männer tagsüber so machen und Cachito zuckt mit den Schultern. 


Und ehe ich mich versehe, schlägt es sechs und Cachito schaut mir in die Augen und sagt: “Hab keine Angst. Einige von den Jungs sind zwar sehr direkt, aber sie sind alle ganz lieb und würden Menschen, die etwas mit dem Refugio zu tun haben, niemals etwas antun”. Angst hatte ich vor allem auf dem Fahrrad, aber danach nicht mehr. Doch nun regt sich da wieder was. 


Einige Männer warten schon vor dem Tor, als Cachito auf schließt. Die hereintretenden Männer begrüßen Cachito herzlich. Ein jüngerer Mann Mitte 30 beäugt mich von weitem schon interessiert. Er tritt auf mich zu und streckt mir seine Hand hin. Ich gebe ihm meine Hand und stelle mich vor, sage ihm, dass ich aus Deutschland komme. Er erwidert darauf, dass Hitler ja auch aus Deutschland kam und fragt mich, ob ich wisse, dass Hitler nur einen Hoden hatte. Darüber hinaus lässt er mich wissen, dass er hofft, dass ich nicht so schlimm sei wie Hitler. Der Mann heißt Carlos. 

Es vergehen einige Minuten und die Männer schwärmen in der Einrichtung aus. Die meisten begeben sich erst mal in die Schlafzimmer und krusteln in ihren Tüten und Rucksäcken. Außerdem werden erstmal die Smartphones an die Mehrfachsteckdosen verfrachtet. Ich setze mich zu ein paar Männern im Hof. In direkter Nähe schraubt ein älterer Mann, Hugo ist sein Name, an einem in die Jahre gekommenen Gasherd rum. 

Ein Mann namens Diego setzt sich neben mich und möchte wissen, ob ich Fußball mag und welchem Verein ich mein Herz geschenkt habe. Er schielt etwas durch seine dicken Brillengläser. Die anderen Männer um uns herum werden leiser. Ich merke, wie die Aufmerksamkeit beginnt, sich auf mich zu fokussieren. Ich erzähle vom SC Freiburg, doch weder Stadt noch Verein sind den Männern bekannt. Bayern und Dortmund kennen sie… Dann geht es um die beiden konkurrierenden Clubs von Montevideo. Die Männer wollen wissen, ob ich “Nacional” oder “Peñarol” bevorzuge. Dass ich keine Meinung in der Causa habe, scheint die Männer zu verwirren. Und ich werde in den nächsten Minuten sehen, warum…

Im Anschluss werden die Vorzüge und vergangenen Meisterschaften der jeweiligen Clubs ausführlichst debattiert. 

Daraufhin spreche ich noch länger mit Carlos, Diego und Hugo. Carlos zeigt sich sehr interessiert an Europa und dem Leben dort. Er fragt mich beispielsweise, ob es wahr ist, dass in Belgien oder in den Niederlanden – das weiß er nicht ganz genau – gratis Drogen ausgegeben werden an die Menschen. Er erzählt mir von vielen seiner Tattoos und seiner Zeit im Gefängnis. Diego schielt etwas und lächelt dabei. Er erzählt mir lang und ausführlich von seiner Zuneigung zu Rammstein und scheut auch nicht davor zurück, mir etwas vorzusingen. Hugo ist im Vergleich viel ruhiger und möchte wissen, wie ich in Deutschland mein Geld verdiene. Außerdem erzählt er mir von seinen Vorfahren, die vor dem Nazi-Regime aus Deutschland flohen. Mir fällt auf, dass seine Arme etwas zu lang sind im Vergleich zu seinem restlichen Körper. 

Die Männer lachen viel und wirken auf mich sehr gut gelaunt. Einer hat Geburtstag. Die Gruppe möchte zur Feier Pizza backen, in dem Gasherd, den Hugo gerade repariert hat. Ich ergreife die Chance und verabschiede mich, denn zwischenzeitlich haben mich die Eindrücke müde gemacht. Ich gehe jedoch nicht, ohne mich für den nächsten Tag nochmal mit Cachito zu verabreden. Mich wurmt eine Frage: Die meisten der Männer wirken auf mich geistig oder körperlich eingeschränkt. Ich frage mich, ob das Zufall ist bzw., was dahinter steckt. 

Am nächsten Tag sehe ich Cachito in einer Bar und wir plaudern über meine Beobachtungen. Er weiß viel über die Lebenswege der einzelnen Männer. Ich frage ihn, was es mit den Handicaps der Männer auf sich hat und er erklärt mir, dass es in Uruguay oft so ist, dass man auf der Straße landet, wenn man erstens keinen Abschluss hat und deshalb keinen Zugang zum Arbeitsmarkt findet und zweitens keine Familie da ist, die einen versorgt. Und oft fielen eben gerade Menschen mit Einschränkungen durch das Netz, erklärt er mir. Ich befrage ihn zu den Leben von Carlos, Diego und Hugo, die mir am besten in Erinnerung blieben. Carlos hat seines Wissens nach eine bewegte Drogenkarriere hinter sich. Diego und Hugo hatten Polio als Kinder und haben deshalb keine Abschlüsse und landeten auf der Straße. An einem gut ausgebauten Bildungsweg für Menschen mit Handicaps scheint es in Uruguay genauso zu fehlen wie an der Fahrrad-Infrastruktur. 

Nachdem wir uns verabschieden, frage ich mich, wie es wohl in ähnlichen Einrichtungen in Deutschland aussieht und ob die Geschichten der Menschen sich wohl ähneln. Und in den nächsten Tagen und Wochen meiner Reise werde ich noch viele Obdachlose sehen. Oft  werde ich dabei an Carlos, Diego und Hugo denken...