Teil II - Die Weltmeisterschaft
Suzan
Man stelle sich vor, Robert Habeck blickt in Kameras und sagt: “Zuerst gewinnen wir die WM und dann kümmern wir uns um das Gas”. Unvorstellbar, richtig? Naja, hier in Uruguay ist mir eine Schlagzeile über den Weg gelaufen, die mir ausreichend Vorstellungskraft einflößen konnte: “Zuerst gewinnen wir die WM, danach kümmern wir uns um die Inflation”, wird die argentinische Arbeitsministerin Raquel Olmos zitiert.
Eine reißerische Schlagzeile… Also habe ich etwas recherchiert und die Ministerin sagte meinen Nachforschungen nach konkret: “Ich bin davon überzeugt, dass man die Inflation immer bearbeiten muss, aber ein Monat wird keinen großen Unterschied machen. Vom Standpunkt der argentinischen Seele her gesehen, angesichts dessen, was es für die Einstellung der Argentinierinnen und Argentinier bedeuten würde, möchten wir, dass Argentinien Weltmeister wird.”1
Dass Inflation etwas ist, das in der Lage ist, Leid zu verursachen, ist zwischenzeitlich ja nicht mehr nur Geschichtsbuchwissen – auch für meine Generation. Zur Erinnerung: Argentinien wird für 2022 voraussichtlich eine jährliche Inflation von 100 Prozent haben. Heißt konkret: Mehr oder weniger alles ist zu Silvester ‘22 doppelt so teuer, wie es noch zu Neujahr ‘22 war. Wer sich dem der Inflation in Argentinien im Wege eines spannenden Fotoprojekts nähern möchte, dem empfehle ich das Fotoprojekt von Irina Werning2 .
Ich bin derzeit in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay. Die Stadt strahlt derzeit in “celeste” (das Hellblau, welches die Nationalmannschaft trägt) und Uruguay-Fahnen schmücken Häuser, Autos und Menschen. Ich weiß natürlich, dass in Deutschland keine große Euphorie herrscht, im Gegenteil: Boykott-Stimmung. Keiner in meinem Umfeld hat Bock auf diese WM. Nach alledem entschließe ich mich, meine Freund:innen in Argentinien und Uruguay mit dem deutschen Diskurs und seinen Wurzeln zu konfrontieren.
Dafür übersetze ich einen Teil der Informationen aus dem SZ-Podcast "Auf den Punkt: Anpfiff in Katar: WM der Doppelmoral”. *** Katar ist ein patriarchalisches Land, als absolute Monarchie autoritär beherrscht, es gibt einen Mangel an Pressefreiheit – ganz zu Schweigen von der Menschenrechtssituation vor Ort und natürlich viele tote Gastarbeiter beim Stadionbau. Ich spreche die Informationen ein und bin am Ende bei einer Sprachnachricht von knapp drei Minuten, die ich dann an meine Freund:innen schicke.
Nachfolgend die Reaktionen – wie alles hier – frei übersetzt…
(Kleine Anmerkung: Talo war als Gastarbeiter in Quatar und arbeitete im VIP-Bereich der Stadien als Servicekraft)
Der Fußball und Lateinamerika… Offensichtlich ein Thema, das genug Stoff für ein Buch bietet, denke ich mir. Und wenn ich das o.g. Zitat der Arbeitsministerin in Gesprächen anspreche, fällt mir bei den Reaktionen auf, dass die Leute hier das gar nicht so verrückt finden wie ich. Und das wiederum macht das Ganze noch etwas verrückter für mich.
Aber ein Gedanke will mich nicht ganz loslassen: Schade, dass die Deutschen das mit der Binde nicht trotzdem durchgezogen haben. Hätte ein Zeichen sein können, auch nach Südamerika.
Für den nächsten Tag buche ich mir einen Bus von Montevideo nach Colonia um 16.00 Uhr. Da wird der Bus sicher leer sein, denke ich mir. Dann spielt nämlich die Celeste…
VAMOS ARRIBA
Quellennachweis:
* Kelly Olmos: "Después seguimos con la inflación, primero ganemos el Mundial"
** Inflation in Argentinien: Zweimal im Jahr muss das Gehalt neu verhandelt werden - DER SPIEGEL
*** SZ-Podcast: Anpfiff in Katar: WM der Doppelmoral - Politik