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Blog Phillip 1

Teil X - Geschichten, die ich nicht schreiben werde und die ich nicht geschrieben habe

Jürgen Langerfeld

Nun sitze ich hier in Copacabana und schaue auf den sonnenbeschienen Titicacasee. Copacabana ist nämlich nicht nur der sagenumwobene Strand in Rio, Brasilien, sondern auch ein Städtchen in Bolivien - bekannt für eine dunkelhäutige Marienstatue und die zeremonielle Segnung von Autos – wahlweise durch einen Priester oder Schamanen. Ich sitze hier, trinke etwas und schaue auf die Promenade runter, wo alle zwei Minuten ein Backpacker vorbei läuft. Ich glaube zu wissen, was sie treibt: Fernweh. Aber mein Fernweh hat sich im vergangenen halben Jahr in einem schleichenden Prozess in Heimweh verwandelt. Und das ist OK. Morgen gehen meine Flieger in Richtung Deutschland. Ich kehre auf der gleichen Route heim, wie ich ursprünglich 2020 herfliegen wollte, bevor mir damals Corona einen gehörigen Strich durch die Rechnung machte. 

Und so soll das hier auch die letzte Geschichte meines Blogs werden. Problem ist nur, ich habe keine mehr bzw. Ich hab noch zu viele… Eigentlich wollte ich noch nach Peru und auch über Peru schreiben. Doch das wird nichts. Außerdem habe ich in den letzten Monaten einiges an Material gesammelt, das ich nicht ausformuliert habe. Und so schreibe ich nun die Geschichten, die ich nicht schreiben werde und die, die ich nicht geschrieben habe: 


Da war Paula, eine Cousine von meinem Freund Jeremías. Ich habe sie auf einer Familienfeier in Rosario, Argentinien, kennengelernt. Wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir, dass ihre Mutter seit ihrem Outing nicht mehr mit ihr spricht. Paula glaubt, dass hier v.a. der katholische Glaube ihrer Mutter Einfluss entwickelt. Die katholische Kirche hat in Argentinien (immer noch) immensen gesellschaftlichen Einfluss…  Paula lebt also bekennend homosexuell, was für sie mit einigen Hürden und nicht zuletzt gesellschaftlicher Diskriminierung verbunden ist. Sie setzt sich in einer lokalen Initiative für die Rechte der queeren Community ein. Sehr gerne hätte ich mich länger mit ihr ausgetauscht, als das auf der Familienfeier möglich war. Wir hatten uns schon verabredet, doch der Termin platzte, weil ihre Oma leider starb. Wie das Leben manchmal spielt… 

Dann war da noch mein Aufenthalt in Bariloche, Argentinien, bei welchem ich mich ein wenig auf die Spuren von Nationalsozialisten begab, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter Mithilfe des Vatikans und der Regierung Perón nach Argentinien kamen. Nicht selten ließen sie sich dort nieder, wo vor ihnen schon andere Deutsche eine neue Heimat fanden. Und das sind interessanterweise oft bergige Gegenden, die an den Süden Deutschlands erinnern: Der Norden Patagonien, oder die Sierra von Cordoba bspw..  Jedenfalls gelang es einigen Nationalsozialisten, sich in Argentinien eine neue Existenz aufzubauen – teils mit neuer Identität, teils aber auch mit ursprünglichem Namen. Erich Priebke, ehemals SS-Hauptsturmführer, bspw. lebte als hoch anerkanntes und einflussreiches Mitglied der deutschen Community in Bariloche. Im Umfeld der deutschen Schule ereignete sich dann aber ein Skandal: Er wurde von einem Reporter mit seiner Vergangenheit in der SS und Mitwirkung an einem Massaker in Italien konfrontiert. Es folgte eine Auseinandersetzung um seine Auslieferung, die nicht allein juristisch ausgefochten wurde. Bis heute befasst sich die deutschstämmige Gemeinschaft Bariloches mit der Aufarbeitung der Verbindungen zum Dritten Reich. Gerne hätte ich Einblicke gewährt in die Gespräche, die ich geführt habe, aber die darauffolgenden Wochen war ich ständig wandern im wunderbaren Patagonien. Und so war mir danach Vieles nicht mehr ausreichend präsent. 

In Iguazu, Argentinien, war ich am gleichen Tag, an dem ich im Casa de Botellas war - aufmerksame Leser:innen erinnern sich - in einer Auffangstation für Wildtiere. Diese wurde seinerzeit von Juan Carlos Chébez gegründet, dem einflussreichsten Naturschützer Argentiniens, dessen Leben und Wirken ganz sicher mindestens eine Stelle in meinem Blog verdient hätte. Guirá Oga heißt die Station, was in der Sprache der Guaraní so viel bedeutet wie “das Haus der Vögel". Neben Vögeln wie Kakadus, oder Aras, werden aber auch Ozelots, Nasenbären, Brüllaffen u.v.m. geholfen. Die Naturschützer retten Wildtiere, bereiten sie auf ihre Wieder-Auswilderung vor und wildern sie schlussendlich aus. Die meisten Wildtiere wurden von Autos angefahren oder von kriminellen Tierschmuggel-Banden konfisziert. Zunächst werden die Tierchen in der Station in Iguazu wieder aufgepäppelt, bevor sie auf einer nahegelegenen Insel wieder an das Wildleben gewöhnt werden. Gelingt die Gewöhnung, werden sie in die freie Wildbahn entlassen. Ich sprach mit einer angehenden Tierärztin, die sich für das Wohl der Tiere ehrenamtlich einsetzt. Scheinbar ist die Auffangstation das Wunschziel schlechthin für die Praktika der angehenden Tierärzte Argentiniens. Außerdem arbeitet das Zentrum mit einer Vielzahl von Freiwilligen. 

In Sucre, Bolivien, besuchte ich eine Stiftung, die sich für den Erhalt der indigenen Kulturtechnik der Stoffherstellung einsetzt. Wir sprechen hier über die farbenfrohen, komplexen Muster der Stoffe, für die Peru und Bolivien so bekannt sind. Sie werden einem vorort überall angeboten. Die Muster sind dabei so komplex, weil sie ähnlich ausdrucksstark sind wie eine Sprache. Wer die Farben und Muster zu deuten weiß, erkennt die darin festgehaltenen Geschichten. Nicht wenige Wissenschaftler argumentieren, es handele sich um eine Schrift. Ursprünglich brauchte eine Frau um einen Meter Stoff herzustellen bis zu 1,5 Jahre. Heute wird in Andendörfern zwar immer noch von Hand aber deutlich weniger aufwendig produziert. Es geht häufig nicht mehr um Kulturtransfer, sondern darum, die Lust der Touristen auf die Stoffe zu stillen. Dabei bleibt das meiste Geld bei Zwischenhändlern hängen. Die Stiftung ASUR (antopologos surandinos - Anthropologen der Südanden) möchte den Stoffen ihren ursprünglichen Wert zurückgeben und fördert den Erhalt der Kulturtechnik sowie die Forschung zum Thema. 

Und last but not least hätte ich gerne aus Peru über die aktuellen Auseinandersetzungen und Konflikte dort geschrieben. Gleichzeitig sind es aber auch jene Konflikte, die mich davon abhielten, nach Peru zu reisen. Ich habe lange mit meinem Freund Karlo gesprochen, der in Peru geboren wurde und heute in Spanien lebt. Er erklärte mir ausführlich die Irrungen und Wirrungen rund um die Absetzung des Präsidenten Pedro Castillo, die zu den aktuellen Protesten führten. So ist es im besonderen die indigene Landbevölkerung, die derzeit protestiert, denn fur diese wollte sich Sanchez einsetzen. Eine tiefsitzende gesellschaftliche Konfliktlinie, die in Peru hier zum Tragen kommt und eigentlich Aufmerksamkeit verdient. 

Und noch vieles mehr gäbe es nieder zu schreiben. Vielleicht mache ich das auch noch eines Tages. Dieser fantastische Kontinent, seine Vielfalt an Natur, Kultur und v.a. Seine Menschen haben mich berührt. Und was ich gesehen habe, war anders und doch überraschend ähnlich. Ähnlich sind die Probleme, anders ihre Intensität. Wir in Deutschland, in Europa sind der Problemlösung vielleicht ein klein wenig näher. Und ich denke zunehmend, dass der globale Süden jetzt und in Zukunft unsere Solidarität verdient – aus einer Vielzahl an Gründen. Das bedeutet ganz konkret, die Gesellschaften des globalen Südens an unserem Wohlstand teilhaben zu lassen. 


Mir hat es große Freude bereitet, meine Reise mit Engagement-Geschichten anzureichern. Und so bleibt mir zum Schluss wenig mehr, als denen zu danken, die meine Artikel mit Interesse gelesen haben und denen meinen Dank auszusprechen, die all das ermöglicht haben. 

Buen Camino und Vamos Arriba 

Pipo

TEIL IX - EL CENTRO VIDA DIGNA - ZENTRUM LEBEN IN WÜRDE

Suzan

Ich sitze in einem Großraumbüro, vier Arbeitsplätze voll mit Unterlagen und Ordnern, einige Regale fungieren als Raumtrenner. Drei Tische sind zusammengeschoben und bieten Platz für Teambesprechungen. Es sieht ein wenig aus wie “zuhause” in der Bürgerstiftung. Hinter den Büroräumlichkeiten befindet sich ein zweistöckiges Gebäude – unten eine Küche, ein Speisesaal und drei Schlafzimmer mit jeweils sechs Stockbetten und einem Bad. Im oberen Stockwerk gibt es einen Raum mit Spielsachen und einen anderen für handwerkliche Tätigkeiten sowie ein Studierzimmer. Es grenzt ein Rohbau an, der darauf wartet, fertig gebaut zu werden. Vor dem Gebäude ist ein Spielplatz und daneben ein Garten. Ich sitze mit vier Frauen an den oben beschriebenen Besprechungstischen. An die Wand projiziert ein Beamer eine Powerpoint-Präsentation. Und ich weine… 

Ich bin in Tarija, einer (nach offiziellen Angaben) 200.000-Einwohnerstadt auf ca. 2.000 Höhenmetern im Süden Boliviens. Die Grenze zu Argentinien ist nicht allzu fern. Tarija ist kein weltbekannter Ort und liegt deshalb auch nicht auf der Reiseroute der meisten Traveller. Gleichwohl verfügt Tarija über einen sehenswerten Altstadtkern und das Umland hat in Sachen Flora, Fauna und Landschaft viel zu bieten. U.A. wird im Umland auch Wein angebaut. Die Familie des Vermieters meiner Unterkunft gehört zu eben jenen Winzern und fährt mich am Tag nach meiner Ankunft durch die hochgelegenen Weinberge. Er ist zum Scherzen aufgelegt und erzählt mir, dass Tarija wohl der einzige Ort der Erde ist, in dem in den Nachrichten ein fester Platz an Witze vergeben ist. Ich habe das nicht nachgeprüft, aber sein Enthusiasmus für tiefgehende und flache Scherze lassen mich ihm nur allzu gerne Glauben schenken.

Der Grund für meinen Besuch in Tarija ist allerdings nicht zum Lachen. Wohl eher das Gegenteil. Über einen privaten Kontakt organisieren wir nämlich (relativ kurzfristig) meinen Besuch im “Centro Vida Digna” (Zentrum Leben in Würde) in Tarija – eine Einrichtung, in welcher jungen Missbrauchsopfern ihre Würde zurückgegeben wird. Eine gute Freundin und ihre Mama unterstützen mit ihrer Stiftung das Zentrum. Milena und ihre Mutter Karina, beide kenne ich als echte Powerfrauen, haben 2013 zusammen die Stiftung “Johana - our own lives, bodies and rooms” gegründet. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und seit 2013 unterstützen sie das Zentrum. Karina hat als angehende Ärztin in den 80er Jahren in Bolivien ein Praktikum gemacht – Daher die Verbindung zum Land und die Solidarität mit den Frauen in Bolivien. Gemeinsam mit der lokalen Frauenrechtsbewegung “Mujeres en Acción” (Dt.: Frauen in Aktion), die schon seit den 90er Jahren aktiv sind, gründeten sie 2013 das Zentrum Leben in Würde, in dessen Räumlichkeiten ich sitze. 

Magali, die Geschäftsführerin des Zentrums, stellt mir ihr Team vor: Eine Sozialarbeiterin, eine Psychologin und eine Anwältin. Gemeinsam erklären sie mir ihre Arbeit. Ihnen ist dabei wichtig, vorweg zu schicken, dass die Trägerorganisation “Frauen in Aktion” sehr viel in Sachen Sensibilisierung und Prävention unternimmt. Im Zentrum ”Leben in Würde” geht es aber konkret um eine integrierte Begleitung jugendlicher Opfer sexueller Gewalt mit Schwangerschaftsfolge. Es geht also darum, jungen Frauen, die in der Folge von Vergewaltigungen schwanger wurden, auf ihrem weiteren Lebensweg zu helfen - v.a. darum, ihnen ihre Würde zurückzugeben. Und leider haben die Damen viel Arbeit: Ca. 1.200 Gewalt-Schwangerschaften gibt es in der Provinz Tarija pro Jahr – wobei diese Daten lediglich jene Fälle abbilden, welche in den Krankenhäusern erhoben werden. Die Dunkelziffer dürfte groß sein. Täter kommen in der Regel aus dem engsten Umfeld der Mädchen – Vater, Onkel, Freunde der Familie usw.. Wenn die Behörden einschreiten, dann insoweit als dass sie den Fall der Justiz übergeben und die Mädchen ins Zentrum bringen. Und das obwohl der Staat umgerechnet gerade mal einen Euro pro Mädchen und Tag an das Zentrum bezahlt. Ein Insasse eines bolivianischen Gefängnisses kostest den Staat 2 € für Essen pro Tag.  Darüber hinaus bildet die Einrichtung ihre Finanzierung über Spenden ab. 

So ist es immens wichtig, dass ihnen vor Gericht Glauben geschenkt wird und es schlussendlich auch zu einer Verurteilung der Täter kommt


Nachdem die Mädchen im Zentrum ankommen, ginge es häufig zunächst darum, sie aufzufangen und für die Thematik zu sensibilisieren, erklären mir die Frauen. Das kann bedeuten, Schuldgefühle auszuräumen, oder ein Verständnis darüber herzustellen, dass ihnen ein Unrecht, etwas abseits der Normalität geschehen ist. In der Folge werden die Mädchen dann Schritt für Schritt in die Lage versetzt, eine freie und möglichst verantwortungsbewusste Entscheidung mit Blick auf das ungeborene Leben zu treffen: Schwangerschaftsabbruch, Adoptionsfreigabe, oder Mutterschaft. Egal welche Entscheidung getroffen wird, die Mädchen finden Unterstützung im Zentrum. Neben einer persönlichen therapeutischen Begleitung geben die Mädchen sich gegenseitig Halt, bspw. im Rahmen von Gruppentherapien. Generell wird die Solidarität zwischen ihnen gefördert. Man lebe zusammen, wie in einer großen Familie.  

Daneben werden die Mädchen empowered, um in der Folge möglichst unabhängig durch ihr Leben schreiten zu können. Das bedeutet konkret v.a., dass großer Wert auf Bildung gelegt wird. Ein regelmäßiger Schulbesuch ist Pflicht. Bei Müttern übernehmen während der Schule andere Klientinnen die Aufsicht über die Kinder. Es gibt eine Hausaufgabenbetreuung, wobei sich die Mädchen ebenfalls gegenseitig unterstützen und sollte das Geld für eine Schuluniform fehlen, wird diese durch das Zentrum bezahlt. Gleichzeitig erhalten die Heranwachsenden die Möglichkeit, sich im Rahmen der zentrumseigenen “Tienda” (ein kleiner Kiosk für die Nachbarschaft) etwas dazuzuverdienen und dabei Grundlagen der Wirtschaft praktisch zu erlernen. Im Kiosk werden Backwaren und Handwerksartikel verkauft, welche die Klientinnen des Zentrums selbst herstellen. Eine weitere große Herausforderung für das Team der Einrichtung ist es zu prüfen, inwieweit eine Rückführung in die jeweiligen Familien möglich und sinnvoll ist. 

Zudem werden die Mädchen im Kontext der Strafverfolgung und anderen juristischen Angelegenheiten unterstützt. So ist es immens wichtig, dass ihnen vor Gericht Glauben geschenkt wird und es schlussendlich auch zu einer Verurteilung der Täter kommt. Einerseits unterstützt das den Verarbeitungsprozess der Mädchen, andererseits darf man berechtigterweise hoffen, dass Verurteilungen abschrecken, sensibilisieren usw.. Ohne eine fachliche Begleitung, blieben Verurteilungen aber oft aus und auch an Vertrauen für die Geschichten der Opfer fehle es nur allzu oft, erklärt mir die Anwältin. Ihr Hauptanliegen ist die Restauration der Rechte der jungen Frauen. Daneben gibt es weitere Angelegenheiten zu klären, die ich mir im Vorhinein nicht vorstellen konnte. Bspw. muss für Kinder, sofern sie denn geboren werden bzw. bei der Mutter aufwachsen, ein zweiter Nachname fingiert – also erfunden – werden, da in Bolivien Menschen immer zwei Nachnamen tragen: den der Mutter und den des Vaters. Fehlt ein zweiter Nachname, muss für das weitere Leben eines Kindes mit Diskriminierung gerechnet werden. 

Die Zeit ist zwischenzeitlich vorangeschritten. Den ganzen Vormittag habe ich mit dem Team des Zentrums gesprochen. Es ist Zeit zum Mittagessen und ich werde eingeladen, mit den Klientinnen des Zentrums zu speisen. Es gibt eine Suppe und danach Reis mit Hähnchen. Während des Essens herrscht zunächst andächtige Ruhe. Doch irgendwann löst sich die Anspannung und die Mädchen beginnen mir Fragen zu stellen – über Deutschland und meine Reise. Zwei der Mädchen haben ihre jungen Kinder auf dem Schoß und füttern sie fürsorglich, wobei hier und da mal etwas für den Hund und die Katze herabfällt, welche friedlich den Essenstisch umstreifen.. Ich habe Nachtisch mitgebracht: Kekse für alle. 

Als ich zurück an den Besprechungstisch komme, kann ich nicht an mich halten und beginne zu weinen. Ich saß gerade mit 15 Mädchen am Mittagstisch, die wirklich noch überaus kindlich auf mich wirken. Das zusammenzubringen mit dem, was ich am Vormittag gehört habe, schmerzt mich außerordentlich. Ich frage, wie die Kolleginnen mit dieser Belastung umgehen und Magali erklärt mir: “Das schmerzt uns auch. Jeden Tag. Und gleichzeitig ist es gerade im Sinne der Mädchen, dass wir sie nicht nur als Opfer sehen und behandeln. Nur dann können sie auch aus der Opferrolle herausfinden.” 

Was Magali sagt, hilft mir umgehend. Trotzdem gehe ich später aus dem Gespräch und spüre Wut auf die bolivianische Gesellschaft und nicht zuletzt den bolivianischen Staat. Des Weiteren nehme ich mir vor, das Zentrum aus Deutschland zu unterstützen. Nicht zuletzt deshalb, weil mir vor dem Abschied von vielen Beispielen berichtet wird, in denen junge Frauen, Abgängerinnen aus dem Zentrum, sich ein eigenes, würdevolles Leben aufbauen konnten.

TEIL VIII - "Los Atacameños und das Lithium"

Suzan

Zwischenzeitlich bin ich in Chile unterwegs – und zwar nicht irgendwo in Chile, sondern in der trockensten Wüste der Welt: Der Atacama. Generell ist die Atacama eine beeindruckende Gegend. Die Wüste liegt auf über 3.000 Höhenmetern, wobei sie von Vulkangipfeln von teils über 6.000 Höhenmetern umsäumt wird. Es gibt Täler, die stark an Mondlandschaften erinnern, Berge, die aufgrund farbiger Sedimente an Regenbogen erinnern und fast überall sieht man Guanacos und Vicuñas. Darüber hinaus gibt es Geysire, noch und nicht mehr aktive Vulkane und die Nächte sind so dunkel, dass die Atacama der perfekte Ort für Weltraumforschung via Teleskope ist. 

Ich habe einen Mietwagen und bin auf dem Weg zum Salar de Atacama, eine große Salzwüste, die u.a. Flamencos einen einzigartigen Lebensraum bietet und neben dem ein landschaftlich wunderschönes Bild erzeugt. Gleichzeitig ist der Salar de Atacama eines der weltgrößten Abbaugebiete von Lithium, welches bekanntermaßen ein zentraler Rohstoff im Kontext der Energiewende bzw. im Konkreten in Zusammenhang mit der Elektromobilität ist. Der Abbau erfordert hohe Mengen an Wasser. Und das, wie oben erwähnt, an einem der trockensten Orte der Erde. Unnötig zu erwähnen, dass Natur und Mensch vor Ort negativ beeinflusst werden – und das nicht nur wegen des Wassers. 

Im Leihwagen läuft der Radiosender, der voreingestellt war. Er spielt Musik mit Panflöten und Gesang, dessen Erzählungen ich nicht verstehe, weil er definitiv nicht in Spanisch ist. Die Musik passt für mein Empfinden aber super zur Landschaft. Zu jeder vollen Stunde wird jedoch Spanisch gesprochen und ich bin in der Lage, etwas zu verstehen. Und zwar laufen dann im “Radio Origines Lickanantay” nicht wie von Dir vielleicht jetzt erwartet Nachrichten, sondern es werden Artikel aus einer Konvention vorgelesen. Zum Beispiel, “Artikel 15: … Die Rechte der betreffenden Völker an den natürlichen Ressourcen ihres Landes sind besonders zu schützen. Diese Rechte schließen das Recht dieser Völker ein, sich an der Nutzung, Bewirtschaftung und Erhaltung dieser Ressourcen zu beteiligen. …” 

Und vielleicht geht es Dir nun wie mir seinerzeit und Du verstehst erstmal nur “Bahnhof”. Die nachfolgenden Ergebnisse meiner Recherche sollten dir aber helfen, die Informationen einzuordnen. Jedenfalls bin ich froh, dass ich mich am Abend nach meinem Besuch des Salars etwas schlau gemacht habe, denn es half mir, spätere Gespräche besser einzuordnen und letzten Endes die lokalen Konflikte rund um den Lithiumabbau in der Atacama besser nachzuvollziehen. Denn darum soll es im vorliegenden Artikel im engeren Sinne gehen. Doch nur der Reihe nach...  

Licán Antai ist die Selbstbezeichnung und Oberbegriff für die unterschiedlichen indigenen Gemeinden in der Atacama. Man kann sie spanisch auch Atacameños nennen. Die oben angesprochene Konvention heißt: “Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern” und wurde von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erarbeitet. Die Konvention aus dem Jahre 1989 verankert das  Recht indigener Völker auf territoriale Selbstbestimmung im internationalen Recht. Chile hat das Abkommen 2008 unterzeichnet und in national verbindliches Regelwerk überführt. Infoblock ende… 


Am nächsten Morgen treffe ich Tom, den Vermieter meiner Unterkunft. Er hat selbst indigene Wurzeln und hat mir bei meiner Ankunft unglaublich herzlich erklärt, was es alles in der Atacama zu entdecken gibt. Ich fasse mir ein Herz und spreche ihn auf meine kleine Recherche zu den Rechten der Atacameños an. Ich frage ihn, ob das die indigenen Gemeinden nicht zu einem unumgänglichen Partner für die Lithium abbauenden Unternehmen macht. Und tatsächlich habe ich “ins Schwarze getroffen”. In der Folge erklärt er mir zunächst, dass alle Natur-Attraktionen der Atacama im Reservat “Los Flamencos” zusammengefasst sind und die jeweiligen indigenen Gemeinden einen naturverträglichen Tourismus sicherstellen. Tatsächlich erinnere ich mich, dass die Einlasse aller meiner bisherigen Besuche von Indigenen gemanagt wurden. Mit Blick auf den Lithiumabbau sagt Tom mir, dass es tatsächlich ein Abkommen zwischen den abbauenden Unternehmen (davon gibt es nur zwei, eines davon ist US-amerikanisch, das andere chilenisch) und den indigenen Gemeinden gibt, welches die Gemeinden finanziell an den Gewinnen der Unternehmen beteiligt. “So, oder so, würden sie das Lithium abbauen und verkaufen. Ich halte es für besser, wenn die Gemeinden finanziell beteiligt werden und das Geld an anderer Stelle im Sinne der Entwicklungen der Gemeinden und den Naturschutz eingesetzt werden kann”, sagt er weiter. Außerdem erzählt er mir von Gruppen, die anderer Meinung sind und den Abbau vehement ablehnen und hierfür auch auf die Straße gehen, bzw. eben jene als Protest sperren. 

Das Ganze klingt in meinen Ohren wie ein nachvollziehbarer Kompromiss, ein Ausgleich zwischen den bestehenden Interessen. Gleichwohl sehe ich mich unter dem Eindruck der Schönheit des Salars und der Atacama zwischenzeitlich außer Stande zu bewerten, was schwerer wiegt: Das lokale Ökosystem oder eine Transformation in Richtung nachhaltiger Mobilität. Zuvor hätte ich sicherlich Zweiteres mehr Gewicht zugemessen. 


Wiederum am nächsten Morgen werde ich sehr früh von meinem Guide Juan Pablo abgeholt. Er wird mich heute auf den “Toco” führen, einen inaktiven Vulkan, dessen Gipfel auf 5.604 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Auf der Fahrt zum Startpunkt unseres Aufstiegs konfrontiere ich ihn mit dem Gespräch, das ich mit Tom hatte. Und überraschenderweise nimmt er einen ganz andere Perspektive auf das Thema ein. Er schildert mir, dass seiner Meinung nach der Abbau von Lithium sofort gestoppt werden sollte. Das Abkommen zwischen den indigenen Gemeinden und den Bergbauunternehmen korrumpiere die indigene Bevölkerung. “Die haben dadurch so viel Geld, dass sie nicht mehr arbeiten müssen. Und das Geld wird auch weder im Sinne der Entwicklung der Gemeinden, noch der Natur eingesetzt. Viele hocken schon mittags in den Kneipen und saufen”, sagt er mir. Als wir später den Gipfel erreichen, kniet Juan Pablo vor dem dort befindlichen Steinhaufen nieder und hängt eine Kette um das Gipfelkreuz. Für Pachamama, erklärt er mir später. Merkwürdig, denn Juan Pablo ist ganz offensichtlich europäischer Abstammung. 

Das alles macht die ganze Angelegenheit für mich schlussendlich zwar besser nachvollziehbar, aber zu einer abschließenden Meinung komme ich nicht. Nur einem Gedanken kann ich mich nicht erwehren: Die indigenen Gemeinden und deren Menschen sind sicher in sich und zwischen sich super unterschiedlich, wie das überall in Gemeinschaften auf der Welt ist. Ich habe mich dabei erwischt, wie ich ein sehr romantisches, einheitliches Bild hatte, von den Indigenen, die die Natur schützen. Und mit Blick auf Deutschland denke ich mir, dass es wohl viele Gruppen gibt, die ich ohne Weiteres in Schubladen stecke. Ich nehme mir vor, Mut, Motivation und Geduld zur Differenzierung aufzubringen. Dann sollte es für mich wohl noch viel zu lernen geben – auf dieser Reise und in Deutschland.

* Übereinkommen 169 - Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, 1989, ILO.

Teil VII - "Mapuche"

Suzan

Ich bin im Norden Patagoniens im Nationalpark Lanín unterwegs. Dort habe ich mein Zelt auf einem Campingplatz am See „Huechulafquen“ aufgeschlagen. Die Nächte sind kalt, die Tage heiß. Tagsüber ist es aber nicht zu heiß, um Wandern zu gehen. Zumal die Landschaft durch wunderschöne Berglandschaften geprägt ist und es beim Bergaufgehen immer etwas kühler wird. Der Nationalpark hat seinen Namen vom inaktiven Vulkan Lanín — Ein über 3.000 Meter hoher, kegelförmiger Berg mit schneebedecktem Gipfel. 

Gerade komme ich von einer Wanderung auf das Base-Camp, von dem aus der Vulkan bestiegen werden kann. Dort oben hatte ich eine wunderschöne Aussicht auf den Vulkan. Ich steige in meinen Leihwagen, der sicher nicht auf die hier herrschenden Straßenverhältnisse hin entwickelt wurde, sich aber bis dato gut schlägt. Mein Magen meldet sich, ich spüre Hunger. Nach ein paar Kilometer sehe ich ein hölzernes Schild am Straßenrand, auf dem steht „Pan Casero“ (Hausgemachtes Brot). Mein Interesse ist geweckt. Einerseits wegen meinem grummelnden Magen, andererseits aufgrund der Tatsache, dass ich „echtes“ Brot vermisse. Bislang fand ich nur krümeliges Weißbrot auf meiner Reise. 

Ich lasse also den Wagen am Straßenrand stehen und steige aus. Vor der Pforte des abfälligen, umzäunten Geländes liegen drei Hunde faul in der Sonne. Ich folge dem gepflasterten Weg den Hang hinunter und gelange zu einer Hütte. Als ich eintrete, ist niemand da. Der Raum wird bis zur Hälfte durch eine Mauer geteilt. Auf Seiten der Eingangstür stehen drei Holztische mit Stühlen, auf der anderen Seite ist eine Küche zu erkennen. Zwischenzeitlich bin ich schon daran gewöhnt, dass man erstmal niemanden antrifft und ich schau mich um. Die Wände sind mit betagten Postern behangen, die  seinerzeit indigene Kulturveranstaltungen bewerben sollten. Außerdem sehe ich eine mir unbekannte Fahne. 

Und während ich so die Wände begutachte, grüßt mich eine Frauenstimme. Ich drehe mich um und sehe eine betagte Dame mit dunklen Augen, welche mir — etwas übertrieben formuliert — bis zum Bauchnabel reicht. Ich grüße zurück und komme gleich zum Punkt: „Ich habe Hunger“. Die Frau erklärt mir, was sie mir alles anbieten kann, doch ich verstehe nur eine Sache davon. Sie spricht dabei so geruhsam, dass es meine Geduld herausfordert. Ich bestelle das, was ich kenne und davon ein halbes Dutzend: „Tortas Fritas“. Das sind im Öl gebackene Teigfladen, die etwas süßlich schmecken. Man bekommt sie hier an jeder Ecke. Ich setze mich an den Tisch direkt am Eingang und hole mein Handy raus. Doch Empfang, geschweige denn mobiles Internet gibt es hier nicht. Also begutachte ich weiter den Wandschmuck. Dabei fängt es an nach frittiertem Teig zu riechen.

Nach einigen Minuten kommt die betagte Dame mit einem kleinen Tablett und bringt mir mein Gebäck. Sie grinst mich an und fragt mich, woher ich komme. Ein leichtes Lächeln erhellt ihr Gesicht, als ich ihr sage, dass ich aus Deutschland bin. Eigentlich möchte ich nach der Fahne an der Wand fragen, aber ich fühle mich unsicher und der Hunger wiegt erst mal schwerer. Als ich dann die heißen Küchlein esse, ärgere ich mich etwas nicht gefragt zu haben. 





Als die ältere Dame dann zurückkommt, um meinen Tisch abzuräumen — Ich blieb sitzen nach dem Essen, schließlich hatte ich mir etwas vorgenommen — fasse ich mir ein Herz und verhaspele mich natürlich direkt. Doch dann schaffe ich es, mich verständlich zu machen: „Ich finde die Fahne interessant, ob ich sie fragen dürfe, was sie bedeutet“, versuche ich möglichst höflich zu formulieren. Die Reaktion ihrer Gesichtszüge gibt mir Sicherheit, denn es scheint sie nicht zu stören, dass ich frage. Mir scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Wie in einer Ausstellung stehen wir vor der Wand und sie weist mit ihrem Zeigefinger. 

„Das ist die Fahne der Mapuche“, erklärt mir die Dame und mittlerweile finde ich die Ruhe, ihrem langsamen Sprechen aufmerksam zu folgen. Das Schwarz stehe für den Schmerz, den ihr Volk erlitten hat und bis heute leidet. Das Rot stehe für das im Rahmen der Kolonialisierung vergossene Blut. Das Blau stehe für die Seen und das Wasser. Und das Grün stehe für die Bäume und Pflanzen. Der gelbe Kreis in der Mitte stellt die Sonne dar und steht stellvertretend für „Madre Tierra“ (Mutter Erde). Mond und Stern übergeht meine Gesprächspartnerin, aber sie erzählt über den Kreis mit vier geschwungene Linien an den Seiten. Dabei handele es sich um ein spezielles Musik-Instrument der Mapuche, welches stellvertretend für das Ziel stehe, die eigene Kultur zu leben und zu erhalten. 

Nach ihren Ausführungen zur Fahne, sage ich, dass ich mir vorstellen kann, dass es nicht einfach ist, die Kultur zu erhalten in unserer modernen Welt und gebe zum Besten, dass das ja in Deutschland mit dem Brauchtum ähnlich sei. Es sei schwer, junge Menschen für Traditionen zu begeistern, sage ich ihr und komme mir etwas doof vor bei dem Vergleich. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen, merke ich schnell, denn die Dame kann anschließen. Die Jugend möchte die Traditionen oft nicht weiterleben, erklärt sie mir im Anschluss. „Sie möchten in die Stadt und das Leben der Weißen leben. Nicht wenige schämen sich sogar für ihre Herkunft.” 

Das erinnert mich an die schwarzen Streifen auf der Fahne und ich frage, was es mit dem Schmerz der Mapuche auf sich hat. Sie erklärt mir, die Kolonialisierung sei mit vielen Toten einhergegangen, doch das Leid endet bis heute nicht. Vielerorts kamen und kommen bis heute Weiße und beanspruchen das Land, auf welchem die Mapuche Jahrhunderte lebten. So seien sie oft vertrieben worden, doch heute gäbe es Mapuche, die sich auch mit Recht und Gesetzen auskennen und man kämpfe. 

Das sind viele Informationen und tiefgreifende Eindrücke für mich. Etwas schwermütig verabschiede mich und trete den Weg zurück zu meinem Wagen an. Beim Fahren erinnere ich mich dann an ein Gespräch, das ich mit einem argentinischen Freund über die Mapuche hatte. Er hat unschön über sie gesprochen und so kannte ich ihn bis dato auch gar nicht. Und nachvollziehen kann ich das, was er gesagt hat, nun schon zweimal nicht. Viel eher drängt sich mir der Gedanke auf, dass wir heute gerade vor dem Hintergrund der Klimakrise gut daran tun würden, die Natur wie eine Mutter zu lieben. Und es wird mir deutlich, dass es in Argentinien noch einen Weg zu gehen gilt, um die Einheit in der Vielfalt zu erreichen. Und wieder einmal erwische ich mich dabei, wie ich stolz bin auf meine Arbeit bei der Bürgerstiftung. Schließlich war es mein Job, unterschiedliche Menschen zusammen und in den Austausch zu bringen. Das scheint mir gerade auch mit Blick auf Stuttgart eine wichtige Aufgabe. 

Teil VI - “Grubbern”

Suzan

Nach der Ruhe in Uruguay setzt mir Buenos Aires ziemlich zu. Die Stadt ist laut und quirlig. Gestern hatte ich einen schönen Abend mit Julián verbracht und viel Spanisch gesprochen. Das war interessant, aber nicht zuletzt unter dem Einfluss von Buenos Aires auch anstrengend. Heute steht ein weiteres interessantes Gespräch auf dem Plan. Ich treffe Renate, eine Freundin und Mitstreiterin aus der Mutterzentrumsbewegung meiner hoch-geschätzten Kollegin Andrea. Renate ist Deutsche, schon lange Zeit in Argentinien und hatte direkt zugesagt, als ich auf Sie zukam und sie um ein Gespräch bat. Ich freue mich darauf, mit ihr Deutsch sprechen zu können. 

Auf dem Weg zum Café, in welchem wir uns treffen, fallen mir immer wieder Männer mit Einkaufswagen voller Altpapier auf, die Mülltonnen durchsuchen. Ich verstehe das noch nicht, doch ehe ich heute zu Bett gehe, werde ich das Gesehene einordnen können. Man soll ja auch nicht so doof ins Bett gehen, wie man aufgestanden ist…

Angekommen im Café, merke ich, dass ich früh dran bin und setze mich schon mal. Es ist Nachmittag und gerade spielt Deutschland gegen Costa Rica sein letztes Gruppenspiel der WM. Im Fernsehen des Cafés läuft allerdings das Parallelspiel von Spanien. Ich denke darüber nach, ob mich das nun stört und just in diesem Moment kommt eine wunderbar gealterte Frau mit breitem Grinsen auf mich zu. Es ist Renate. Nach kurzer Verwirrung, ob wir uns nun auf die Wangen küssen, wie es die Argentinier zu pflegen tun, setzt sie sich zu mir an den Tisch. Wir plaudern, ich erzähle ihr von meiner Reise und warum ich auf sie zukam. Dann wechseln wir den Tisch, denn die Straßen Buenos Aires setzen uns auch hier zu…


Renate ist seit vielen Jahren in Argentinien und gab 2004 ihren Job in einer Bank in München auf, um ihren Mann Gottfried zu begleiten, der eine Stelle als Südamerika-Hörfunkkorrespondent der ARD antrat. Und an dieser Stelle sei mir ein Lektürehinweis für tiefergehende Interessierte gestattet: Gottfried hat ein wunderbares Buch über seine Zeit in Südamerika geschrieben (1). Ein Buch, das mir o.g. Andrea zum Abschiedsgeschenk machte und das ich nur zu gerne gelesen habe auf meiner Reise. 

Jedenfalls ist Renate entsprechend viel rumgekommen auf dem Kontinent. Mittlerweile begleitet sie ausgewählte Reisegruppen durch Buenos Aires und Argentinien. Aber der Grund, warum ich sie kontaktierte, war ein anderer: Sie hat sich für ein Mütterzentrum in einem Armenviertel von Buenos Aires eingesetzt und damit nach meiner bescheidenen Meinung viel erreicht. Ich interessiere mich brennend dafür, wie das vonstatten ging und nutze die Chance, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. 

Renate erzählt mir von einem Konvent zu Social Change in Brasilien, auf welchem sie und ihr Mann einen Herren trafen, der eine Kooperative zum Altpapier-Recycling in Villa Independencia, eben jenem Armenviertel von Buenos Aires, aufbaute. (AHA, denke ich. Ob das nicht etwas mit den altpapiersuchenden Männern zu tun hat?) Nachdem was Renate und ihr Mann über das Viertel gehört hatten, wollten sie sich selbst ein Bild von der Situation verschaffen. Und hier in aller Kürze, was die beiden vorfinden: „Mittendurch fließt der „Reconquista“ — eine stinkende Kloake, vollgestaut mit Müllsäcken, Autowracks und Chemikalien einer nahen Fabrik. (…). In Sichtweite der Villa türmt sich die Müllhalde der Hauptstadt (…). In der Villa Independencia leben ungefähr dreitausend Menschen. Die Meisten betteln oder verdienen sich als Müllsammler.“ (Stein 2014: 28). Wer möchte, achte bitte an dieser Stelle besonders auf die absurde und paradoxe Verwendung der Begriffe „Independencia“ und „Reconquista“ als Namen in diesem Kontext.

Aus der Mütterzentrumsbewegung  stammend, hatte Renate natürlich einen Blick für die jungen Frauen — oft nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre — die schon Mütter sind und entschied, ein Mütterzentrum im Viertel aufzubauen. Und es sollte gelingen — mit Hilfe von Spendengeldern aus Deutschland. Renate erzählt mir, dass der Schlüssel um zunächst den jungen Müttern und damit den Familien und vor allem auch den Kindern zu helfen, ihrer Meinung nach in Bildung liegt. Und so organisierte sie Alphabetisierungskurse und half jungen Frauen dabei ihren Abschluss nachzuholen. Heute bietet das Zentrum u.a. Tanz- und Theaterkurse, Hausaufgabenhilfe sowie Sozialberatung und eine kleine Werkstatt. Doch richtig stolz wirkt Renate erst, als sie erzählt, dass die Mütter es schlussendlich gemeinsam geschafft haben die damalige Ministerpräsidentin der Provinz vor Ort zu bekommen und dass mit ihrer Mithilfe zwischenzeitlich eine Kanalisation errichtet wurde. 

“Und da wusste ich, dass ich mit meinem Engagement unbedingt weitermachen muss — auch wenn es manchmal schwierig, oder gar aussichtslos ist.”

— Renate

Ich möchte von Renate wissen, wie es kommt, dass Kinder Kinder kriegen, ob Verhütung nicht ein Ansatzpunkt wäre. Und sie erklärt mir, dass es natürlich auch um Verhütung gehe und das schwierig sei aufgrund des Einflusses der Kirche. Aber sie stellt einen anderen Punkt in den Vordergrund: Die jungen Frauen wollen Mütter werden, denn erst dann wird ihnen dort wo sie sind gesellschaftliche Anerkennung zuteil. Ersteres hatte ich ja auf dem Zettel, zweites aber nicht. Und wieder einmal bin ich überrascht. Renate führt weiter aus, dass den jungen Frauen häufig erst als Mütter mit Respekt entgegnet wird und deshalb Mädchen aus eigenem Antrieb früh Kinder bekommen möchten. Stabile Familienverhältnisse entstehen mit den Vätern jedoch selten, führt sie aus. 

Seit mehr als einem Jahrzehnt widmet sich Renate dem Mütterzentrum in der Villa Independencia. Vor diesem Hintergrund möchte ich wissen, was sie motiviert sich immer wieder auf´s Neue zu engagieren. Sie entgegnet mir mit einer Frage: „Philipp, weisst du was Grubbern ist?“ Das wusste ich bis dato ebenfalls nicht, aber auch das sollte sich ändern. „Ich war mal im Winter auf Feldern bei München spazieren und haderte gerade mit mir und meinem Engagement. Da traf ich einen Bauern auf seiner Landmaschine, die mich mit ihrem Krach beim Denken unheimlich störte. Etwas energisch fragte ich den Bauern, was er hier im Winter mit dieser Maschine auf dem Feld mache. Er sagte mir gerade im Winter, auch wenn es Frost gibt und die Erde hart ist, ist es wichtig die Erde zu grubbern. Und da wusste ich, dass ich mit meinem Engagement unbedingt weitermachen muss — auch wenn es manchmal schwierig, oder gar aussichtslos ist.“ 

Ein stärkeres Ende kann ich mir für diesen Text nicht ausdenken… Nur eines noch, für diejenigen, die wie ich nicht wussten, was Grubbern ist: Pflügen. Auf dass wir alle nicht so doof ins Bett gehen, wie wir aufgestanden sind. 





  1. Gottfried Stein 2014: Südamerika im Umbruch. Geschichten aus einem faszinierenden Kontinent. BoD Books on Demand, Norderstedt. 

Teil V - Die Seele Argentiniens

Suzan

Ich komme mit der Fähre an und werde im Hafen mit einer riesigen Fahne begrüßt: Celeste, Weiß, Celeste. In der Mitte eine goldene Sonne. Meine Zeit in Uruguay geht damit zu Ende und es zieht mich über den Rio de la Plata in die Hauptstadt Argentiniens. In Buenos Aires werde ich einige Tage alleine verbringen, bis ich einen argentinischen Freund am Flughafen abhole, um mit ihm in Richtung Rosario weiterzuziehen. Ich habe mir im Vorhinein schon ein Hostel gebucht, welches auch mein erstes Ziel sein soll. 

Doch zunächst möchte ich Geld abheben, was in Argentinien aufgrund unterschiedlicher Wechselkurse zur Herausforderung wird. Neben dem offiziellen Wechselkurs, gibt es einen inoffiziellen Wechselkurs, welcher einem in etwa doppelt so viele Pesos für einen Euro verspricht als der Offizielle. 100 Euro sind zu diesem Zeitpunkt nach offiziellem Wechselkurs 18, nach inoffiziellen 36 Tausend Pesos. Der größte Schein ist 1.000 Pesos. Wer über das Lesen dieses Textes hinaus die Motivation findet, die Inflation in Argentinien zu beobachten, kann ja mal nachschauen, was der Peso „heute“ in Euro wert ist. 

Obenstehende Einsicht erlange ich aber erst im weiteren Verlauf meiner Reise, sodass ich mit frischen Banknoten vom Automaten (nach offiziellem Wechselkurs) ausgestattet im Hostel ankomme und beim Bezahlen feststellen muss, dass Argentinien gar nicht so viel günstiger ist als Deutschland. Sei´s drum, denke ich mir und lege erst mal meine Sachen ab und gönne mir die lang ersehnte Dusche. 


Frisch geduscht gehe ich dann in den Gemeinschaftsraum des Hostels um mich etwas von den Strapazen der Reise zu erholen. Dort begrüßt mich ein dunkelhaariger, untersetzter Mann mit Bart. Ich schätze ihn auf Anfang 40. Und wie so oft auf meiner Reise komme ich mit dem Fremden ins Gespräch. Und wie so oft ist eine seiner ersten Fragen, wo ich herkomme. Die Menschen sehen mir an, dass ich nicht in Südamerika geboren bin. Gleichzeitig verwundert sie, dass ich „Argentino“, also Argentinisches Spanisch, spreche. Julián fragt mich nach dem Grund dafür. Ich erkläre ihm, dass ich in Spanien mit Menschen aus Uruguay und Argentinien zusammengewohnt habe und mir dort meinen „Dialekt“ angewöhnt habe. Außerdem erkläre ich ihm, dass mir Argentino sehr gefällt, da (Achtung: Lautschrift) „ll“ und „y“ nicht wie im Spanischen als „j“, sondern als „sch“ ausgesprochen werden. Und das kenne ich gut aus meinem Schwarzwald-Dialekt, dem Alemannisch. 

Beim „Selva Negra“ (Schwarzwald) wird Julián hellhörig. Und ich finde auch schnell heraus warum. Er erklärt mir, dass er deutsche Vorfahren jüdischer Herkunft hat, die während des zweiten Weltkriegs emigriert sind. Seine Uroma, so erzählt er weiter, stammt seines Wissens nach aus dem Selva Negra. Er bittet mich um einen Moment Geduld, verlässt den Raum und ich höre ihn in seinem Rucksack herumkramen. Er kehrt wieder mit einer Papiermappe, aus welcher mit Eselsohren versehene Blätter herausgucken. Ich bin sehr gespannt, was nun kommt. 

Julián hat Ahnenforschung betrieben und ist dabei über Facebook mit einer Großcousine aus Stuttgart in Kontakt getreten. Diese hat ihm ein Buch zur Familiengeschichte inkl. Stammbaum zukommen lassen. Seine Augen schimmern freudig beim Erzählen, wobei er es sich nicht nehmen lässt hin und wieder an seinem Mate zu ziehen. Es folgt eine nicht ganz unkomplizierte Erläuterung zu seiner Herkunft. Er wusste bereits zuvor, dass er mit dem ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger verwandt ist. Sein Vater und Opa waren bzw. sind auch Diplomaten, erzählt er mir und zeigt dabei auf den etwas vergilbten Stammbaum. Dann fahren seine Finger zu seiner Urgroßmutter, wo in kleinen Buchstaben Glottertal als Geburtsort eingetragen ist. Sappalot! Seine Uroma kommt also aus dem Schwarzwald… Und er hat sogar ein Schwarz-Weiß-Bild in seiner Mappe, auf welchem besagte Frau vor dem Hintergrund eines der mir so bekannten Täler zu sehen ist. 

Nachdem wir die Ahnenforschung hinter uns lassen, tauschen wir uns über unsere Berufsleben aus. Julián ist studierter Rechtswissenschaftler und hat sich dann im Bereich des Systemischen Coachings weitergebildet. Zwischenzeitlich bildet er in diesem Bereich selbst aus. Seine Leidenschaft liegt in diesem Kontext bei „Konstellationen“, sagt er mir. Hierbei werden Systeme über Gegenstände oder Personen verbildlicht, erklärt er mir. Da ich noch nicht ganz verstehe, bitte ich ihn mir ein Beispiel zu geben. Und so fängt er an, über sein aktuelles Projekt zu sprechen. 

Derzeit tourt Julián durch mehrere Argentinische Städte um Konstellationen durchzuführen. Seine Leitfrage ist dabei, wie es derzeit gesellschaftlich um Argentinien steht. Und so führt er immer wieder Gruppen an Menschen zusammen, die dann — ähnlich wie in einem Rollenspiel — unterschiedliche Perspektiven auf das Land einnehmen. So verkörpert eine Person bspw. die Natur, Menschen die im Ausland leben, die indigene Bevölkerung Argentiniens usw.. Die Teilnehmenden denken sich in die jeweilige Perspektive herein und dann werden unterschiedliche Themen besprochen:
Bspw. Die wirtschaftliche Lage und natürlich die Inflation. Ich frage Julián wie er Teilnehmende für sein Projekt gewinnt und bin überrascht als er mir antwortet, dass er bis hierhin immer mehr Interessenten hatte, als Plätze für die Workshops. Woran das seiner Meinung nach liegt, möchte ich natürlich wissen. Seine Antwort überrascht mich: „Viele Argentinier:innen sind so unzufrieden mit der aktuellen Situation, dass sie daraus Motivation schöpfen, darüber zu sprechen.“ Das sei dann so etwas wie ein Ventil und helfe den Menschen gleichzeitig die aktuelle Situation besser zu verstehen und über Lösungen nachzudenken. 

Vielmehr ist die Seele Argentiniens krank. Argentinien leidet an einem kollektiven Trauma
— Julián

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und frage ihn, welche Erkenntnisse er bis hierhin mit dem Projekt hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage Argentiniens gewonnen hat. Und wieder überrascht mich seine Antwort. „Weißt du Philipp, es ist nicht so, dass unsere Wirtschaftwissenschaftler:innen dümmer sind als eure. Vielmehr ist die Seele Argentiniens krank. Argentinien leidet an einem kollektiven Trauma“. Weiter erklärt er, dass es einen stark ausgeprägten Individualismus im Land gebe. Alle wollten Messi oder Maradona sein. Es mangele an geteilten Werten, was eine Politik mit Weitsicht erschwere. Die Menschen trauten sich hierzulande gegenseitig nicht und es fehle auch an Vertrauen in die Institutionen. Und das schmerze tatsächlich auch jeden Einzelnen. Abschließend sagt Julián mir: „Die Wirtschaft Argentiniens ist ein Spiegel, in welchem wir uns selbst ins Gesicht schauen können“. 

Mir kommt das „Sozialkapital“ in den Sinn — ein politikwissenschaftlichen Ansatz, der auch in der Arbeit der Bürgerstiftung Stuttgart eine wesentliche Rolle spielt. Zutrauen in die Menschen, die Gesellschaft und ihre Institutionen zu mehren, das scheint mir obergeordnetes Ziel unserer Stiftung zu sein. Und das Gespräch mit Julián zeigt mir, dass das ein wichtiges Ziel bleibt. 

Teil IV - El Refugio

Suzan

Ich bin in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays. Hier habe ich Freunde aus meiner Zeit in Spanien, die ich besuche und die mich gastfreundlich aufnehmen. Guillermo hat dankenswerterweise bei seiner Mutter eine Matratze abgeholt, auf der ich nächtigen darf. Seine Wohnung liegt an den Ramblas von Montevideo, die mit ihren kreischenden Loros tatsächlich an Barcelona erinnern, nur dass sie entlang des Atlantiks führen und nicht auf das Mittelmeer zu.  


Uruguay wird von Europäern oft als südamerikanische Schweiz bezeichnet, was ganz sicher nicht an ähnlich bergigen Landschaften liegt. Das Land ist geprägt von grasigen Weiten, auf denen man nicht selten Rinder grasen sieht. Hierzulande gibt es mehr Vieh als Einwohner, was wohl schon eher eine Parallele zur Schweiz sein dürfte. Vor allem aber ist Uruguay für südamerikanische Verhältnisse ein reiches Land. Das Lohnniveau ist verhältnismäßig hoch, sodass Guillermo zum Urlaub machen gerne nach Argentinien fährt. Die Gründe könnten ähnlich sein, wie die, die Schweizer:innen in den Schwarzwald bringen, denke ich mir. Und tatsächlich ist das Preisniveau in Uruguay so hoch, dass sich auch für mich mit Euros auf dem Bankkonto das Essengehen als Alltagsluxus gestaltet. 

Ich erzähle Guillermo von meinem Blog und er begreift, dass es im Großen und Ganzen um soziale Projekte geht. Er empfiehlt mir einen Bekannten, der “etwas soziales” arbeitet. Bis heute kenne ich nur seinen Spitznamen und nicht seinen vollen Namen – ein Phänomen, was mir schon öfter vorgekommen ist, denn Freunde von Freunden kenne ich ganz häufig nur unter Spitznamen. “Cachito” wird der Freund genannt, den ich kontaktieren soll. Ich stelle mir also einen kleinen Menschen vor, denn Cachito meint so viel, wie “halbe Portion”. 

Ohne große Umschweife nehme ich Cachito eine Sprachnachricht auf und erzähle ihm darin von mir, meiner Reise und von meinem Blog. Nur wenige Minuten später erhalte ich Antwort. Mit freudiger Stimme erzählt er mir, dass er für das Sozialministerium in einem “Refugio” arbeitet und dass er gerne mit seiner Chefin klärt, ob ich vorbeikommen kann, um die Einrichtung kennenzulernen. 

Bereits am nächsten Tag haben wir uns verabredet. Ich fahre mit dem Fahrrad in das etwas außerhalb gelegene Viertel und merke, dass entsprechende Infrastruktur auch in Uruguays Hauptstadt Entwicklungsfeld ist. Angekommen, schüttle ich zunächst die Ängste der Straßen ab und erblicke dann eine alte Villa, die ihre besten Tage sicherlich hinter sich hat und deren Tor am oberen Ende mit Stacheldraht gedeckt wird. Hier bin ich mit Cachito verabredet, um seine Arbeit kennenzulernen. Und ich warte nur wenige Minuten, da fasst mir auch schon jemand von hinten auf die Schulter und begrüßt mich mit breitem Grinsen: Ein junger Mann, Mitte 20, mit dunklen Haaren, Kurzhaarfrisur, kurzer Hose und Rammstein-T-Shirt, welches er, so wird er mir später erzählen, extra angezogen hat, weil die Band ja aus Deutschland stammt. 

Cachito schließt das Tor auf und wir treten ein. Er rät mir, mein Fahrrad mit reinzunehmen und ohne Umschweife beginnt er mir zu erzählen. Es ist 17.30 Uhr und Cachito erklärt mir, dass die “clientes” erst um 18.00 Uhr hereinkommen dürfen, sodass wir noch etwas Zeit haben, um zu quatschen und das Gebäude zu besichtigen. Er führt mich in ein kleines Büro, in dem wir zunächst Platz nehmen. Er eröffnet mir, dass es sich bei dem "Refugio" um eine Unterkunft für wohnungslose Männer handelt. 

Die Männer können hier die Abende und Nächte verbringen, bekommen etwas zum Abendessen und müssen die Einrichtung am Morgen dann wieder verlassen. Die alte Villa bietet Nacht für Nacht 40 Männern einen sicheren und wettergeschützten Schlafplatz. Von diesen 40 Männern sind 35 dauerhaft registriert, sodass Cachito die meisten der Männer bereits gut kennt. Seit zwei Jahren macht er diesen Job – seitdem er mit dem Studium fertig ist, erzählt er mir. Und er führt mich durch das Haus. Der Eingang führt über eine kleine Steintreppe in ein Wohnzimmer, in welchem ein etwas abgerocktes Sofa gegenüber eines kleinen Fernsehers steht. Den Gang entlang gibt es rechter Hand vier Schlafzimmer, in denen jeweils fünf Stockbetten stehen. Am Ende des Gangs führt eine Tür in einen kleinen Hinterhof, in welchem Wäscheleinen, gesäumt von rissigen Bettlaken, hängen, ein kleiner Schuppen steht und zu meiner Überraschung ein kleines Gemüsebeet verschiedenen Pflanzen Lebensraum bietet. Ich frage, was die Männer tagsüber so machen und Cachito zuckt mit den Schultern. 


Und ehe ich mich versehe, schlägt es sechs und Cachito schaut mir in die Augen und sagt: “Hab keine Angst. Einige von den Jungs sind zwar sehr direkt, aber sie sind alle ganz lieb und würden Menschen, die etwas mit dem Refugio zu tun haben, niemals etwas antun”. Angst hatte ich vor allem auf dem Fahrrad, aber danach nicht mehr. Doch nun regt sich da wieder was. 


Einige Männer warten schon vor dem Tor, als Cachito auf schließt. Die hereintretenden Männer begrüßen Cachito herzlich. Ein jüngerer Mann Mitte 30 beäugt mich von weitem schon interessiert. Er tritt auf mich zu und streckt mir seine Hand hin. Ich gebe ihm meine Hand und stelle mich vor, sage ihm, dass ich aus Deutschland komme. Er erwidert darauf, dass Hitler ja auch aus Deutschland kam und fragt mich, ob ich wisse, dass Hitler nur einen Hoden hatte. Darüber hinaus lässt er mich wissen, dass er hofft, dass ich nicht so schlimm sei wie Hitler. Der Mann heißt Carlos. 

Es vergehen einige Minuten und die Männer schwärmen in der Einrichtung aus. Die meisten begeben sich erst mal in die Schlafzimmer und krusteln in ihren Tüten und Rucksäcken. Außerdem werden erstmal die Smartphones an die Mehrfachsteckdosen verfrachtet. Ich setze mich zu ein paar Männern im Hof. In direkter Nähe schraubt ein älterer Mann, Hugo ist sein Name, an einem in die Jahre gekommenen Gasherd rum. 

Ein Mann namens Diego setzt sich neben mich und möchte wissen, ob ich Fußball mag und welchem Verein ich mein Herz geschenkt habe. Er schielt etwas durch seine dicken Brillengläser. Die anderen Männer um uns herum werden leiser. Ich merke, wie die Aufmerksamkeit beginnt, sich auf mich zu fokussieren. Ich erzähle vom SC Freiburg, doch weder Stadt noch Verein sind den Männern bekannt. Bayern und Dortmund kennen sie… Dann geht es um die beiden konkurrierenden Clubs von Montevideo. Die Männer wollen wissen, ob ich “Nacional” oder “Peñarol” bevorzuge. Dass ich keine Meinung in der Causa habe, scheint die Männer zu verwirren. Und ich werde in den nächsten Minuten sehen, warum…

Im Anschluss werden die Vorzüge und vergangenen Meisterschaften der jeweiligen Clubs ausführlichst debattiert. 

Daraufhin spreche ich noch länger mit Carlos, Diego und Hugo. Carlos zeigt sich sehr interessiert an Europa und dem Leben dort. Er fragt mich beispielsweise, ob es wahr ist, dass in Belgien oder in den Niederlanden – das weiß er nicht ganz genau – gratis Drogen ausgegeben werden an die Menschen. Er erzählt mir von vielen seiner Tattoos und seiner Zeit im Gefängnis. Diego schielt etwas und lächelt dabei. Er erzählt mir lang und ausführlich von seiner Zuneigung zu Rammstein und scheut auch nicht davor zurück, mir etwas vorzusingen. Hugo ist im Vergleich viel ruhiger und möchte wissen, wie ich in Deutschland mein Geld verdiene. Außerdem erzählt er mir von seinen Vorfahren, die vor dem Nazi-Regime aus Deutschland flohen. Mir fällt auf, dass seine Arme etwas zu lang sind im Vergleich zu seinem restlichen Körper. 

Die Männer lachen viel und wirken auf mich sehr gut gelaunt. Einer hat Geburtstag. Die Gruppe möchte zur Feier Pizza backen, in dem Gasherd, den Hugo gerade repariert hat. Ich ergreife die Chance und verabschiede mich, denn zwischenzeitlich haben mich die Eindrücke müde gemacht. Ich gehe jedoch nicht, ohne mich für den nächsten Tag nochmal mit Cachito zu verabreden. Mich wurmt eine Frage: Die meisten der Männer wirken auf mich geistig oder körperlich eingeschränkt. Ich frage mich, ob das Zufall ist bzw., was dahinter steckt. 

Am nächsten Tag sehe ich Cachito in einer Bar und wir plaudern über meine Beobachtungen. Er weiß viel über die Lebenswege der einzelnen Männer. Ich frage ihn, was es mit den Handicaps der Männer auf sich hat und er erklärt mir, dass es in Uruguay oft so ist, dass man auf der Straße landet, wenn man erstens keinen Abschluss hat und deshalb keinen Zugang zum Arbeitsmarkt findet und zweitens keine Familie da ist, die einen versorgt. Und oft fielen eben gerade Menschen mit Einschränkungen durch das Netz, erklärt er mir. Ich befrage ihn zu den Leben von Carlos, Diego und Hugo, die mir am besten in Erinnerung blieben. Carlos hat seines Wissens nach eine bewegte Drogenkarriere hinter sich. Diego und Hugo hatten Polio als Kinder und haben deshalb keine Abschlüsse und landeten auf der Straße. An einem gut ausgebauten Bildungsweg für Menschen mit Handicaps scheint es in Uruguay genauso zu fehlen wie an der Fahrrad-Infrastruktur. 

Nachdem wir uns verabschieden, frage ich mich, wie es wohl in ähnlichen Einrichtungen in Deutschland aussieht und ob die Geschichten der Menschen sich wohl ähneln. Und in den nächsten Tagen und Wochen meiner Reise werde ich noch viele Obdachlose sehen. Oft  werde ich dabei an Carlos, Diego und Hugo denken... 

Teil III - Día de Limpieza

Suzan

Ich gehe an schier endlosen Stränden entlang. Meine Füße tragen mich immer weiter in Richtung Süden. Die Wellen rauschen in Richtung Strand und laufen sich in immer neuen Rundungen und mit weißem Saum aus. Bis auf einen Pferdewagen mit zwei freundlichen, braun gebrannten Uruguayos sowie hie und da mal Möwen und andere – mir unbekannte – Vögel ist mir, seit ich das Städtchen Punta del Diablo am Morgen verließ, nichts und niemand über den Weg gelaufen. 

In Punta del Diablo habe ich als letztes eine abgelegene Villa mit Leuchtturm gesehen. Seinerzeit hatten sich dort Vertreter des argentinischen Führungskaders der Militärjunta getroffen. In den Sommermonaten ist es im Osten Uruguays wohl besser auszuhalten als in Buenos Aires. Von den lokalen Fischern ließen sie lebende Haie fangen. Die Tiere sollten dann vor besagter Villa in einem mit Meerwasser gefüllten Pool umher schwimmen, während sich die Herrschaften mit Champagner die Hucke vollsaufen. Zumindest schilderte mir Hugo, mein Vermieter der vergangenen Nacht, das so. Es war viel Wut in seiner Stimme. 

Nachdem ich eine Woche bei einem Freund in Punta del Este verbracht habe, um etwas in Uruguay und in Südamerika anzukommen, juckte es mir in den Fingern. Oder in diesem Fall vielleicht besser: in den Zehen. Ich habe mir nämlich vorgenommen, 120 Kilometer von Punta del Diablo im Norden – immer an den Stränden entlang – nach Faro José Ignacio, weiter südlich gelegen, zu laufen. Währenddessen und im Nachhinein sollte sich herausstellen, dass das ein ungewöhnliches Abenteuer in den Augen der Locals ist..

Jedenfalls waren diese Tage so einsam, wie man sich das beim Lesen nun vielleicht vorstellt. Doch ein Zeichen menschlicher Zivilisation (oder unseres Mangels an Zivilisation), begegnete mir immer wieder: Plastikmüll. Große Mengen an Plastikflaschen, -tüten, Fischernetzen usw. sammeln sich offensichtlich auch an den Stränden dieses Teils der Welt. Auf 30 Kilometer Strecke sah ich an besagtem Tag fünf Müllfelder, welche augenscheinlich aufgrund der Topografie einerseits und dem Gezeitenwechsel andererseits im Zeitverlauf “entstehen”. 

Ich war nicht sonderlich überrascht. Erwartet hatte ich das aber auch nicht – vielleicht naiv, ich weiß es nicht. Jedenfalls machte mich der Umstand, dass diese vermeintliche Abgeschiedenheit mit Müllfeldern konterkariert wird, immer wieder etwas traurig und nachdenklich – glaube ich doch zu wissen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Am Abend traf ich in “Valizas” auf Ro. Er betreibt ein buntes, man könnte sagen, extravagantes Hostel in diesem Dörfchen am Meer, das mir ein Freund ein paar Tage zuvor bereits als “muy hippie” ankündigte. Die Hochsaison des Tourismus beginnt erst im Dezember, ich bin also der einzige Gast im Hostel “Lo do Ro” und so scheint Ro Zeit zu haben. Er wirkt auf mich so extravagant wie das Gebäude. Er ist groß und schlaksig, durchaus sportlich und trägt ein gelbes Shirt sowie eine breite, bunt-verspiegelte Sonnenbrille. Wir kommen ins Gespräch und ich frage ihn, wie er zu diesem Hostel kam.


Ro kommt eigentlich aus Montevideo, ist studierter Jurist und das Grundstück, auf dem heute sein Hostel steht, fiel ihm im Wege einer Erbschaft in den Schoß, denn den Verstorbenen kannte er, gemäß eigenen Angaben, gar nicht. Seinerzeit wusste er nicht, was anzufangen mit seinem Leben, sodass er – fragt mich nicht wie –  auf die Idee kam, einen Campingplatz auf dem Grundstück zu eröffnen. Noch nie hatte er gecampt in seinem Leben, erzählte er mir und lachte dabei laut aus. Nach einiger Zeit begann er mit der Hilfe von Freiwilligen, die gegen Kost und Logie mit anpackten, ein Haus zu bauen. Über zehn Jahre ist das Haus nun im Bauprozess und man merkt, dass es “organisch” gewachsen ist und weiter wächst. Auch während meines Aufenthalts sind fünf junge Menschen als “Voluntarios” da und streichen, sägen, putzen, waschen usw. 

Er fragt, was ich in Deutschland so treibe und ich erzähle von der Bürgerstiftung und versuche unsere Arbeitsweise anhand des Plaudertelefons zu verdeutlichen. Er hört mir so aufmerksam zu, dass ich das Gefühl bekomme, dass er in etwa versteht, was ich da versuche zum Ausdruck zu bringen. Ich erkläre, dass das Fundament unserer Arbeit das bürgerschaftliche Engagement ist, dass sich Menschen für etwas oder jemanden einsetzen, um die Welt vor Ort etwas lebenswerter zu machen – kein leichtes Unterfangen, nicht auf Spanisch und oft auch auf Deutsch nicht. 

Er erzählte mir im Anschluss vom “Día de Limpieza”, den er zweimal jährlich organisiert. Ins Schwäbische übersetzt also “Kehrwoche”, bloß dass sie den Strand und nicht das Treppenhaus sauber machen. Über sein Netzwerk spricht er im Vorhinein viele Bekannte an und der Deal ist schnell erklärt: Die Freiwilligen kommen, packen mit an und erhalten im Gegenzug ein gemeinsames Abendessen mit anschließender Feier und gratis Übernachtung im Hostel. Ca. 20 Personen kommen regelmäßig und schwärmen dann – mit Mülltüten bewaffnet – aus, um die Dünen rundum Valizas von Müll zu befreien. 

An verschiedenen Orten entlang des Strands werden die Mülltüten gesammelt und am frühen Abend von einem Traktor eingesammelt. Die Mülltüten und der Traktor (inkl. Fahrer) werden von der Verwaltung der Region gestellt, erklärt er mir weiter. Einige Säcke an Plastikmüll behält er und reinigt ihn. In den folgenden Wochen veranstaltet Ro dann einen Workshop in der örtlichen Grundschule. Er geht dann zunächst gemeinsam mit den Schüler:innen an den Strand und erklärt dort, was Plastikmüll in unseren Weltmeeren für Folgen hat. Im Anschluss werden Teile des gesammelten Plastikmülls zu Kunstprojekten verarbeitet. Die Kunst hat dann die Verschmutzung der Weltmeere zum Thema. “Noch wichtiger, wie das der Strand sauber gehalten wird, ist mir, dass die nachfolgende Generation versteht, warum es wichtig ist, unsere Meere vom Müll zu befreien und sauber zu halten”, sagt mir Ro mit ausnahmsweise recht ernstem Gesichtsausdruck. 

Außerdem ist er in einem “Nachbarschaftsrat” aktiv, in welchem es darum geht Valizas in eine “gute” Zukunft zu führen. Ich stelle mir das vor, wie einen Bezirksbeirat, nur weniger formell. Er erzählt mir, dass in dem Gremium die Meinungen darüber, was eine gute Zukunft ist, oft weit auseinandergehen. So hatte eine seiner Initiativen, Valizas in Richtung Plastikfreiheit zu entwickeln, kürzlich keine hinreichende Unterstützung gefunden. 

Nach unserem Gespräch laufen Ro und ich gemeinsam an den Strand. Er wird mich mit seinem Kayak über die Flussmündung bringen, die ich überqueren muss, um weiter in Richtung Cabo Polonio laufen zu können. Ich hatte zuvor keine Ahnung, dass ich über einen Fluss muss… Eine Fähre gibt es nicht. Zum Laufen ist die Mündung zu tief. Glück gehabt. Und wie wir so laufen, frage ich mich, ob ein “Kehrtag - Care-Tag” nicht auch eine Idee für Stuttgart und die Bürgerstiftung wäre… 

Und nur wenige Tage später wird mir meine Mutter einen Artikel weiterleiten. Er behandelt eine UNO-Konferenz, die wenige Kilometer südlich im uruguayischen Punta del Este stattfindet. Dort kam ich zuvor bei einem Freund unter. Es ist die erste UNO-Konferenz für ein Abkommen gegen Plastikmüll. Ziel ist es, die Kunststoffverschmutzung im Meer und an Land bis zum Jahr 2040 einzudämmen1 . 

Quellen

https://www.deutschlandfunk.de/erste-uno-konferenz-fuer-abkommen-gegen-plastikmuell-104.html

Teil II - Die Weltmeisterschaft

Suzan

Man stelle sich vor, Robert Habeck blickt in Kameras und sagt: “Zuerst gewinnen wir die WM und dann kümmern wir uns um das Gas”. Unvorstellbar, richtig? Naja, hier in Uruguay ist mir eine Schlagzeile über den Weg gelaufen, die mir ausreichend Vorstellungskraft einflößen konnte: “Zuerst gewinnen wir die WM, danach kümmern wir uns um die Inflation”, wird die argentinische Arbeitsministerin Raquel Olmos zitiert. 

Eine reißerische Schlagzeile… Also habe ich etwas recherchiert und die Ministerin sagte meinen Nachforschungen nach konkret: “Ich bin davon überzeugt, dass man die Inflation immer bearbeiten muss, aber ein Monat wird keinen großen Unterschied machen. Vom Standpunkt der argentinischen Seele her gesehen, angesichts dessen, was es für die Einstellung der Argentinierinnen und Argentinier bedeuten würde, möchten wir, dass Argentinien Weltmeister wird.”1

Dass Inflation etwas ist, das in der Lage ist, Leid zu verursachen, ist zwischenzeitlich ja nicht mehr nur Geschichtsbuchwissen – auch für meine Generation. Zur Erinnerung: Argentinien wird für 2022 voraussichtlich eine jährliche Inflation von 100 Prozent haben. Heißt konkret: Mehr oder weniger alles ist zu Silvester ‘22 doppelt so teuer, wie es noch zu Neujahr ‘22​ war. Wer sich dem der Inflation in Argentinien im Wege eines spannenden Fotoprojekts nähern möchte, dem empfehle ich das Fotoprojekt von Irina Werning2 .

Ich bin derzeit in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay. Die Stadt strahlt derzeit in “celeste” (das Hellblau, welches die Nationalmannschaft trägt) und Uruguay-Fahnen schmücken Häuser, Autos und Menschen. Ich weiß natürlich, dass in Deutschland keine große Euphorie herrscht, im Gegenteil: Boykott-Stimmung. Keiner in meinem Umfeld hat Bock auf diese WM. Nach alledem entschließe ich mich, meine Freund:innen in Argentinien und Uruguay mit dem deutschen Diskurs und seinen Wurzeln zu konfrontieren. 

Dafür übersetze ich einen Teil der Informationen aus dem SZ-Podcast "Auf den Punkt: Anpfiff in Katar: WM der Doppelmoral”. *** Katar ist ein patriarchalisches Land, als absolute Monarchie autoritär beherrscht, es gibt einen Mangel an Pressefreiheit – ganz zu Schweigen von der Menschenrechtssituation vor Ort und natürlich viele tote Gastarbeiter beim Stadionbau. Ich spreche die Informationen ein und bin am Ende bei einer Sprachnachricht von knapp drei Minuten, die ich dann an meine Freund:innen schicke.

Nachfolgend die Reaktionen – wie alles hier – frei übersetzt…
(Kleine Anmerkung: Talo war als Gastarbeiter in Quatar und arbeitete im VIP-Bereich der Stadien als Servicekraft)

Man merkt schon, dass es hier unglaublich viel Kapital gibt. Und sie tun alles dafür, dass es so wirkt, als wäre hier alles schön. Aber aus der Innenperspektive gesehen ist es ein Desaster. Quatar ist nicht gut vorbereitet auf diese Weltmeisterschaft. Die Logistik funktioniert nicht, der Einlass in die Stadien auch nicht. Und die Leute sind super faul. Der Service ist fürchterlich.
— Talo, Gastarbeiter in Quatar

Der Fußball und Lateinamerika… Offensichtlich ein Thema, das genug Stoff für ein Buch bietet, denke ich mir. Und wenn ich das o.g. Zitat der Arbeitsministerin in Gesprächen anspreche, fällt mir bei den Reaktionen auf, dass die Leute hier das gar nicht so verrückt finden wie ich. Und das wiederum macht das Ganze noch etwas verrückter für mich.

Aber ein Gedanke will mich nicht ganz loslassen: Schade, dass die Deutschen das mit der Binde nicht trotzdem durchgezogen haben. Hätte ein Zeichen sein können, auch nach Südamerika.

Für den nächsten Tag buche ich mir einen Bus von Montevideo nach Colonia um 16.00 Uhr. Da wird der Bus sicher leer sein, denke ich mir. Dann spielt nämlich die Celeste…


VAMOS ARRIBA

Quellennachweis:
* Kelly Olmos: "Después seguimos con la inflación, primero ganemos el Mundial"
** Inflation in Argentinien: Zweimal im Jahr muss das Gehalt neu verhandelt werden - DER SPIEGEL
*** SZ-Podcast: Anpfiff in Katar: WM der Doppelmoral - Politik

Teil I - Wie es zum Diario Voluntario kam

Suzan

Liebe Leser:innen,
ich bin Philipp Morath, Spitzname: Pipo, 30 Jahre alt, gebürtig aus dem Hochschwarzwald, der Ausbildung nach Moderator, Mediator und Prozessbegleiter sowie meines Zeichens Südamerikaner-Liebhaber, was nicht zuletzt meine aktuelle Reise begründete. Meine Zuneigung zu Ländern und Menschen speist sich aus meiner Zeit im baskischen San Sebastian, wo ich mit einigen Südamerikanern zusammenlebte und noch mehr kennen- und schätzen lernen durfte. Mein Spanisch ist zwar immer noch holprig, aber spätestens mit Unterstützung neuester (Google-Translator) und ältester (Hände und Füße) Medien, kann ich mir hinreichend Ausdruck verleihen. Und so reise ich derzeit durch Uruguay, Argentinien, Chile, Bolivien und Peru.

Warum ein Diario Voluntario ?

Die vergangenen zwei Jahre arbeitete ich für die Bürgerstiftung Stuttgart und durfte mich vor allem im Arbeitsbereich Demokratieförderung und Bürgerbeteiligung engagieren. Bei der Durchführung verschiedener Jugendpartizipationsprozesse fand ich meine berufliche Heimat. Eine Heimat, die ich – so ist das wohl beim Reisen – auf eigenen Wunsch verlassen habe, nichtsdestotrotz aber in mir trage. Denn ich denke, dass Menschen zwar immer wieder, aus unterschiedlichsten Gründen, ihre Heimat verlassen, die Heimat aber nie ganz die Menschen verlässt. Und so trage ich den “Markenkern” der Bürgerstiftung, das Engagement von Menschen – sich also für etwas oder für jemanden einzusetzen – auch weiter in mir. 

Auf diesem fruchtbaren Boden wuchs die Idee in mir, meine Reise mit einer weiteren Mission anzureichern: dem “Diario Voluntario - Ein Reiseblog zu Engagementgeschichten in Lateinamerika”. Denn nach und nach fiel mir auf, dass es eine weitere zentrale Verbindung zwischen den Ländern Südamerikas und der Bürgerstiftung Stuttgart gibt. Diese verbindet sogar alle Gemeinschaften auf der Welt: Überall gibt es Menschen die nicht-wünschenwerte Zustände vorfinden und sich im nächsten entscheiden, etwas für den Wandel in Richtung wünschenswerte Zustände zu tun. 

Und so gesehen gibt es wohl (leider) einen endlosen Pool an Engagementmöglichkeiten. Wir merken ja gerade, wie uns die Simultanität, also das gleichzeitige Auftreten von Krisen zu schaffen macht: Corona-Pandemie inkl. gesellschaftliche Spaltung, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die zugehörige Energiekrise mit steigender Inflation und nicht zuletzt der Klimawandel, dessen Folgen sich auch bei Waldbränden zeigten und welcher sich im Schatten der erstgenannten Krisenwellen auftürmt und voranschreitet.

Von Diktatoren, 100% Inflationsrate und Brandrodung

Blicke ich nun – noch aus der Ferne – auf Chile oder Argentinien, sehe ich Länder, in welchen vor nicht allzu langer Zeit mit Pinochet und Videla Diktatoren regierten. Regierende, die gesellschaftliche Spaltung hinterlassen, so glaube ich, als Deutscher zu wissen. Ferner hat Argentinien gerade eine Inflationsrate von 100 Prozent erreicht – ein Wert, von dem wir in Europa noch weit entfernt sind. Und in Bolivien brannten 2022 (Stand: 13. September) 235.148 Hektar (Ur-)Wald nieder, was meinen Recherchen nach nicht zuletzt an Brandrodungen liegt, die Platz schaffen sollen für Flächen, die dem Export von Soja und Fleisch zuträglich sind. Zum Vergleich: Das langjährige Mittel für Waldbrände in Deutschland liegt bei 646 Hektar betroffener Waldfläche jährlich. 

So ist es Ziel des Diario Voluntario aufzuzeigen, wie Menschen in Lateinamerika den sie umgebenden Herausforderungen begegnen. Wer sind diese Menschen? Was treibt sie an? und was tun sie? Diesen Fragen werde ich mit Blick auf unterschiedlichste Herausforderungen nachspüren und euch, liebe Leser:innen, versuchen, teilhaben zu lassen. 

Ich freue mich über jede:n, der/die Interesse für diesen vielfältigen Kontinent, seine fröhlichen Menschen und last but not least meine Geschichten aufbringt. 

In diesem Sinne, seid gegrüßt, Buen Camino und Vamos Arriba

Pipo